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Natalie Grams über Wissenschaftsskepsis in der Medizin
Grenzen der Medizin verharmlosen
Das kritische Magazin "MIZ" führte ein Interview mit der Ärztin Natalie Grams über die Skepsis gegenüber der evidenzbasierten Medizin, die sich während der Corona-Pandemie in grossen Impfprotesten entlud.
von Redaktion | 31. August 2023
Laut Grams richtete sich der Widerstand weniger gegen das Impfen selbst, sondern gegen den staatlichen Impfzwang. Viele Demonstranten fühlten sich in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt und wollten sich hier ein Stück Freiheit zurückholen. Auch die neuartige mRNA-Technologie der Corona-Impfungen verunsicherte viele Menschen, da mögliche Langzeitfolgen dieser genetischen Impfstoffe unklar waren. Trotz Erklärungen von Experten hielten sich hartnäckige Mythen, die Impfungen könnten das menschliche Erbgut dauerhaft negativ beeinflussen.
Grams betont, Zweifel und offene Diskussionen seien durchaus wichtig und berechtigt. Doch wenn wissenschaftliche Expertinnen und Experten die Faktenlage verständlich erklärten, müsse man dies akzeptieren, statt stur an Mythen und Verschwörungstheorien festzuhalten.
Skeptiker der Schulmedizin argumentierten oft mit Einzelfällen, wo eine alternativmedizinische Behandlung angeblich besser geholfen habe als die Schulmedizin. Für Grams sind solche Anekdoten jedoch wenig aussagekräftig. Nur systematische wissenschaftliche Studien unter kontrollierten Bedingungen könnten die generelle Wirksamkeit einer Methode oder eines Medikaments zeigen. Oft erzeuge bereits der Behandlungskontext einen Placebo-Effekt, der fälschlicherweise einer spezifischen Methode zugeschrieben werde.
«Das Problem in der ‘Alternativmedizin’ ist ja, dass sie oft super viel verspricht und nur wenig davon halten kann. Da finde ich die normale Medizin einfach ehrlicher, wenn es natürlich auch furchtbar ist, dass wir noch nicht für alles ein Heilmittel haben. Aber das wird wohl immer so sein und trotzdem wird sich die Medizin weiterentwickeln. Ich wäre aber immer skeptisch, wenn mir jemand verspricht, dass sein Mittel oder seine Methode alles – und auch noch sofort – heilen kann.»
Weiter kritisiert Grams, dass Ärzte aufgrund von Effizienzdruck und ökonomischen Zwängen kaum mehr Zeit für eine angemessene Behandlung der Patienten hätten. Viele Menschen sehnten sich in der Medizin nach mehr Zwischenmenschlichkeit und individueller Zuwendung. Kein Wunder, wenn manche in der scheinbar patientenfreundlicheren Alternativmedizin einen Ausweg aus dieser Entfremdung suchten. Doch absolute Heilversprechen seien unglaubwürdig und unseriös.
Zwar gebe es in der Schulmedizin noch lange nicht für alle Krankheiten wirksame Heilmittel. Doch sie sei letztlich ehrlicher als die Alternativmedizin, welche die Grenzen der Medizin verharmlose. Um das Vertrauen in die Wissenschaft zu stärken, brauche es in der Medizin weniger Effizienzdruck und mehr Raum und Zeit für die menschliche Beziehung zwischen Arzt und Patient.
Quelle: MIZ