
Noam Chomsky und der Ukrainekrieg
«Putin ist ein mieser Typ»
Das Interview zwischen Noam Chomsky und einer russischen Journalistin bietet einen faszinierenden Einblick in die Sicht des berühmten Intellektuellen auf den Ukraine-Krieg. Chomsky analysiert die historischen Wurzeln des Konflikts und wirft einen kritischen Blick auf die Rolle der NATO-Osterweiterung. Er skizziert die möglichen Szenarien für ein Kriegsende und warnt eindringlich vor einer unkontrollierten Eskalation. Ein Interview, das zum Nachdenken anregt und keine einfachen Antworten liefert.
von Redaktion | 23. September 2023
TV Rain: Guten Tag, Herr Chomsky, schön Sie zu sehen. Zuerst wollte ich Sie fragen, wie Sie persönlich zur aktuellen Situation in der Ukraine stehen. Ihre Position zu diesem Krieg unterscheidet sich sehr von der vorherrschenden Meinung im Westen. Könnten Sie erklären, wer Ihrer Meinung nach für den Beginn der Invasion verantwortlich ist?
Noam Chomsky: Zunächst einmal unterscheidet sich meine Meinung nicht so sehr von der vorherrschenden Meinung im Westen, nicht von den politischen Führern. Schauen Sie sich zum Beispiel die aktuelle Ausgabe des Harper’s Magazine an, ein wichtiges amerikanisches Magazin. Der Leitartikel von zwei prominenten internationalen Spezialisten, Benjamin Schwarz und Christopher Layne, vertritt dieselbe Position wie ich.
Wer ist für den Krieg verantwortlich? Für die unmittelbare Aggression ist natürlich Putin verantwortlich. Es gibt keine Rechtfertigung für Aggression. Andererseits, wenn man weiter zurückblickt – Schwarz und Layne erzählen darüber eine gute Geschichte – ist seit 30 Jahren, seit Clinton, den Top-Leuten des US-Diplomatischen Corps, einschliesslich des derzeitigen CIA-Direktors und seiner Vorgänger, den meisten Politikwissenschaftlern in den 1990er Jahren und seither klar, dass die NATO-Erweiterung bis an die russische Grenze ein Bruch fester Versprechen an Gorbatschow war, leichtsinnig und provokativ. Der derzeitige CIA-Direktor William Burns, ein Russlandexperte, war besonders deutlich als er erklärte, dass er in all den Jahren, die er als Botschafter in Russland verbracht hat, nicht einem einzigen Menschen begegnet ist, der, von rechts bis links, nicht zustimmte, dass der Beitritt der Ukraine zur NATO eine absolute inakzeptable rote Linie ist. Das gilt für Jelzin, Gorbatschow, liberale Kritiker des Putin-Regimes, alle stimmen dem zu. Das ist Washington seit mehr als 30 Jahren bekannt. Trotzdem hat die überwältigende Mehrheit des politischen Establishments dies [die NATO-Erweiterung] unterstützt. Sie sind trotzdem weitergegangen. Das ist der Hintergrund, den man nicht ausser Acht lassen kann. Es rechtfertigt nicht die Invasion, nichts rechtfertigt Aggression, aber es ist Teil des Hintergrunds, den man berücksichtigen muss.
TV Rain: Ja, aber Sie stimmen zu, dass die Ukraine nicht beabsichtigte, in absehbarer Zukunft der NATO beizutreten, oder? Es gab sogar Garantien an die russische Regierung, dass die Ukraine kein Mitglied des Bündnisses werden würde. Insbesondere, soweit ich weiss, sagte das Bundeskanzler Scholz Wladimir Putin kurz vor Kriegsbeginn, dass dies nicht geschehen könne, dass niemand plante, die Ukraine in die NATO aufzunehmen.
Noam Chomsky: Nun, wenn Sie das denken, sprechen Sie mit der falschen Person. Sie sollten mit dem Direktor der CIA sprechen, mit Politikwissenschaftlern in den USA, die Ihnen nicht zustimmen werden. Sprechen Sie also mit ihnen.
TV Rain: Nein, nein, nein, mich interessiert nur Ihre Position.
Noam Chomsky: Ich denke, sie haben Recht. Aber es ist sinnlos, mit mir darüber zu streiten, wenn dies die quasi einstimmige Expertenmeinung ist. George W. Bush drängte 2008 darauf, die Ukraine müsse der NATO beitreten. Damals wurde er von Frankreich und Deutschland gestoppt, aber die USA sind mächtig genug, so dass sie [Frankreich und Deutschland ] die offizielle Erklärung, es sei nur eine Frage der Zeit, nicht verhindern konnten. Wenn China ein riesiges, hochaggressives Militärbündnis schaffen und zu Mexiko sagen würde: “Ihr werdet beitreten, auch wenn nicht jetzt, dann bald”, und in der Zwischenzeit Mexiko in das chinesische Militärbündnis integrieren würde, würden die USA das keine Sekunde tolerieren. Wenn Mexiko jemals nur daran dächte, so etwas zu tun, wäre es erledigt. Sie wissen das ganz genau. Schauen Sie, was passierte, als Kuba völlig legal, das Aussenministerium stimmte zu, völlig legal, um Verteidigung gegen die andauernden US-Terrorangriffe bat. Die USA haben Kuba und die Welt fast zerstört. Kuba und Russland waren völlig im Recht, wie das Aussenministerium zustimmte. Die US-Aktionen waren total illegal. Aber das wurde nicht toleriert.
TV Rain: Unter anderem sagen Sie, dass «die Ukraine kein freier Akteur ist, sie hängt davon ab, was die USA bestimmen». Sie wissen wahrscheinlich, dass dies genau das ist, was russische Propaganda behauptet.
Noam Chomsky: Entschuldigung, das ist das Gegenteil von dem, was russische Propaganda behauptet. Was ich sagte, ist, die Ukraine hat jedes Recht, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, wir haben nichts dazu zu sagen. Aber wir leben nun einmal in einer Welt, und in dieser Welt haben Machtsysteme Auswirkungen auf das, was andere tun. Sie können so tun, als ob es das nicht gäbe. Wenn Sie so tun wollen, als lebten Sie auf dem Mars, aber in dieser Welt hat das, was die Vereinigten Staaten bestimmen, einen grossen Einfluss auf das, was alle tun. Das ist eine Tatsache über die Welt. Und das ist, was Sie zitiert haben. Aber Sie haben nicht den nächsten Satz zitiert, der besagt, dass die Ukraine jedes Recht hat, alles zu tun, was sie will. Sich zu bewegen, wie sie will. Wenn sie aber gegen die Forderungen der USA verstösst, gerät sie in Schwierigkeiten, so wie jeder andere auf der Welt.
TV Rain: Wer stellt in diesem Fall die Forderungen der USA und was, denken Sie, gewinnen die USA aus diesem Konflikt, aus diesem Krieg?
Noam Chomsky: Nun, es gibt viele Interessen, einige diskutieren führende US-Strategieanalysten wie Anthony Cordesman, einer der angesehensten konservativen politischen Strategieanalysten. Er weist darauf hin, dass die USA ein enormes Schnäppchen von diesem Krieg erhalten: zu einem kleinen Bruchteil des gewaltigen US-Militärbudgets gelingt es, die militärischen Kräfte des einzigen militärischen Gegners schwer zu schwächen. Wie Cordesman feststellt, ist das unglaublich, ein Schnäppchen. Ich sage nicht, dass dies das Motiv ist, aber es ist eine Tatsache.
Der Rest der Welt leidet unter dem Krieg. Europa geht es schlechter, es könnte zu einer Deindustrialisierung kommen. Vielen Ländern des Südens fehlen dringend benötigte Nahrungsmittel. Die ganze Welt leidet stark unter der drohenden Gefahr eines Atomkriegs und der Umkehrung der begrenzten Schritte zur Bewältigung des Klimawandels. Aber ein Land profitiert enorm: die Vereinigten Staaten.
Nochmals, ich sage nicht, dass dies das Motiv ist, aber es ist eine Tatsache. Ich erwähnte bereits den militärischen Aspekt. Noch wichtiger: Die US-Ölkonzerne wissen nicht wohin mit ihren Gewinnen, buchstäblich. Die Profite boomen, weil Europa 10-mal so viel für US-Flüssiggas ausgibt wie früher für russisches Gas. Geopolitisch haben die USA enorm gewonnen.
Während des gesamten Kalten Krieges war strittig, ob Europa sich in der Weltpolitik unabhängig bewegen würde. Das Ziel der USA, aber auch von Leuten wie Brzezinski, war ein atlantisches System unter Führung der USA durch die NATO. Russland hat den USA ein immenses Geschenk auf dem Silbertablett überreicht und Europa an die USA ausgeliefert. Es hat die Idee eines unabhängigen Europas und Eurasiens untergraben. Ein wunderbares Geschenk für die USA. Die USA profitieren also enorm vom Krieg. Alle anderen leiden darunter.
Ist das das Motiv? Nicht notwendigerweise. Es gibt auch anständige Motive, wie einem Land zu helfen, das unter brutaler, grausamer Aggression leidet. Das ist auch ein Motiv. Aber kein wichtiges, wenn man die Geschichte ansieht. Die Vereinigten Staaten haben nie diese Position eingenommen, wenn Länder von ihren eigenen Verbündeten oder von sich selbst angegriffen wurden. Denken Sie an die Contras. Die USA ist das aggressivste Land der Welt, mit brutaler Gewalt in den letzten Jahren. Die NATO griff Serbien, den Irak, Afghanistan, Libyen an, mit verheerenden Folgen, ohne glaubwürdigen Vorwand. Das sind Tatsachen über die Welt.
Wenn wir also über moralische Motive sprechen, müssen wir dies relativieren angesichts der Tatsache, dass die Moral die Politik nicht beeinflusst. Trotzdem können moralische Motive existieren. Wenn Sie also die Mischung der Motive betrachten wollen…
TV Rain: Nur um es klarzustellen: Was wäre, wenn die USA der Ukraine nicht geholfen hätten? Sicher wäre die Ukraine dann von Russland besetzt worden.
Noam Chomsky: Gut, erzählen Sie das Leuten, die gegen die Verteidigung der Ukraine sind. Aber Sie müssen es nicht mir erzählen, denn ich habe immer nachdrücklich und klar gesagt, dass es gute Gründe gibt, der Ukraine zu helfen, sich selbst zu verteidigen. Das ändert nichts.
TV Rain: Nochmals, ich versuche nur, Ihre Position zu verstehen. Sie sagen also, dass die USA ein Interesse an diesem Krieg haben. Nach den Wahlen in den USA – was ändert sich Ihrer Meinung nach?
Noam Chomsky: Wenn die Republikaner gewinnen, ist es sehr wahrscheinlich, dass ein grosser Teil der republikanischen Basis gegen die Ausgaben und die Unterstützung für die Ukraine sein wird. Nicht weil sie Pazifisten sind, sondern weil sie sich auf einen Krieg mit China konzentrieren wollen, der noch gefährlicher ist. Wenn also die Republikaner die Wahl gewinnen, wird die Unterstützung für die Ukraine abnehmen und wir werden uns auf einen letzten Krieg zubewegen, der die menschliche Spezies vernichten wird. Gewinnen die Demokraten, wird die bisherige Politik wahrscheinlich fortgesetzt. Was ist Ihre Prognose? Wer wird gewinnen?
TV Rain: Sie haben erwähnt, dass die grösseren Kriege, die die USA in verschiedenen Teilen der Welt geführt haben – und ich zitiere Ihre Worte: «Russland kämpft humaner als die USA im Irak». Stimmen Sie dem zu?
Noam Chomsky: Das sind nicht meine Worte. Es tut mir leid, aber das ist kein Zitat von mir.
TV Rain: Ja, Sie haben völlig Recht. Es tut mir leid.
Noam Chomsky: So verdrehen russische Propagandisten die Dinge. Tatsache ist, dass amerikanische und britische Militäroffiziere, wie bereits erwähnt, festgestellt haben, dass Russland zu ihrer Überraschung den Krieg nicht so hart geführt hat wie die USA und Grossbritannien. Die Propagandisten drehen das um und sagen, Russland kämpfe humaner. Okay, Standard-Propagandatechnik. Aber Tatsache ist, dass die amerikanischen und britischen Militärs Recht haben. War jemand in Bagdad, als die USA dort angriffen? War jemand in Kiew? Fragen Sie sich selbst.
TV Rain: Ja, aber hat jemand Mariupol und Butscha und Isjum besucht?
Noam Chomsky: Der entscheidende Punkt ist: Wenn die USA und Grossbritannien ein Land angreifen, greifen sie direkt an die Kehle: Sie zerstören die Kommunikation, den Transport, die Energie. Russland führt einen brutalen, grausamen Krieg. In Kiew geht das Leben weiter, die Westukraine ist kaum betroffen. Russland hat nicht einmal die Versorgungswege zerstört. Es ist ein brutaler, grausamer Krieg, aber nicht auf dem Niveau, auf dem die USA und Grossbritannien Krieg führen.
TV Rain: Aber Herr Chomsky, ich möchte nicht, dass Sie denken, ich würde Propaganda machen. Aber würden Sie nicht zustimmen, dass, wenn man den amerikanischen Krieg im Irak mit dem vergleicht, was Russland in der Ukraine tut, die Leute vorschnell zu dem Schluss kommen könnten, dass Sie versuchen, das russische Vorgehen zu rechtfertigen?
Noam Chomsky: Leute, die nicht denken können, könnten das sagen. Wenn ein deutscher Nazi-Apologet, kein Nazi-Kritiker, sagt, der Irak-Krieg sei nicht so schlimm wie die Nazis, dann ist das keine Rechtfertigung für den Irak-Krieg. Das kann jeder verstehen. Wenn ich in ähnlicher Weise sage, die russische Invasion der Ukraine ist gewalttätig und mörderisch, aber nicht so schlimm wie der Irak-Krieg, dann ist das keine Rechtfertigung für die Invasion der Ukraine. Die Logik ist einfach: Wenn ich vergleiche, dann vergleiche ich. Wenn Leute, wie die amerikanische Propaganda, sagen, die Invasion der Ukraine sei etwas absolut Einzigartiges, das wir nicht tolerieren können, ein Land, das ein anderes angreift, dann kommen sie mit der ganzen schönen Rhetorik über unser Engagement für das Völkerrecht usw., dann sage ich: Sie sind ein totaler Heuchler und Lügner, Ihre eigenen Kriege sind noch schlimmer.
TV Rain: Wladimir Putin, der Präsident Russlands – wie würden Sie diese Persönlichkeit und diesen Führer beschreiben?
Noam Chomsky: Nun, Sie könnten George W. Bush fragen, der in Putins Augen seine Seele sah und ihn für gut befand. Oder man kann die Leute fragen, die jetzt die Teeblätter lesen und ihn als einen völlig paranoiden Verrückten beschreiben. Oder man kann sich die Fakten ansehen. Nun, wir haben die Fakten, wir wissen, was seine Positionen waren. Ich möchte nicht sein Freund sein, ich denke, er ist ein mieser Typ, wie jeder, der aggressive Gewalt ausübt. Aber seine Persönlichkeit geht mich nichts an. Er ist ein Kleptokrat, er hat ein riesiges Vermögen für sich und seine Freunde angehäuft, er führt einen harten autoritären Staat. Warum sollte ich das kommentieren? Er führt einen brutalen Krieg. Aber das ändert nichts an den Tatsachen über die immense Heuchelei, die Lügen und Erfindungen und die Unterdrückung entscheidender Fakten, die auch wahr sind.
TV Rain: Wie würden Sie die Bestrafung für die Invasion, für Wladimir Putin und andere Verantwortliche beschreiben oder sehen?
Noam Chomsky: Ich denke, dass jeder, der eine Aggression begeht, vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden sollte. Das gilt für George W. Bush, Obama, Clinton, Putin – alle sollten sich dort verantworten müssen.
TV Rain: Wie sehen Sie eine Lösung für den Krieg in der Ukraine? Können Sie sich ein Friedensabkommen vorstellen? Wie könnte so ein Friedensvertrag aussehen?
Noam Chomsky: Um es klar zu sagen: Es wird entweder eine diplomatische Verhandlungslösung geben oder nicht. Dem kann man logisch nicht widersprechen.
Angenommen, es gibt keine diplomatische Lösung. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder gewinnt eine Seite unilateral oder es kommt zu einem Patt, in dem sich beide Seiten einfach gegenseitig aufreiben, wie im Ersten Weltkrieg. Die Ukraine wäre wahrscheinlich zerstört, Russland schwer geschädigt. Nehmen wir an, die eine oder die andere Seite kapituliert. Welche Seite wird das sein? Es wird nicht Russland sein. Russland verfügt über die ultimativen Waffen. Sollte es jemals mit einer Niederlage konfrontiert werden, was unwahrscheinlich ist, würde es einfach die Eskalation erhöhen. Es würde damit beginnen, die Nachschublinien anzugreifen, es würde in Konflikt mit der NATO geraten, und bald würden wir uns in einem nuklearen Endkrieg befinden. Russland wird nicht kapitulieren. Wir wollen keine Kapitulation der Ukraine. Wir wollen kein Patt, das die Ukraine zerstört.
Es gibt nur eine Option: eine diplomatische Lösung. Wie könnte diese aussehen? Klar ist, dass Russland die Kontrolle über Sewastopol, die es seit 1783 hat, nicht aufgeben wird. Es ist der einzige eisfreie Hafen Russlands. Und die Krim? Die richtige Antwort wäre ein international überwachtes Referendum auf der Krim, um herauszufinden, was die Menschen wollen. Wenn man den grossen amerikanischen Magazinen wie Foreign Affairs glauben darf, dann wollen die Krimbewohner offenbar von Russland annektiert werden. Das könnten wir mit einem Referendum herausfinden. Wenn das das Ergebnis ist, okay. Irgendeine Form von Landbrücke zwischen der Krim und Russland, irgendeine Form von Autonomie innerhalb einer ukrainischen Föderation für die Region Donbass, grob gesagt das Minsker Abkommen. Und die Garantie, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt. Das sind die Grundzüge einer diplomatischen Lösung.
Kann sie erreicht werden? Man kann es nur versuchen. Die US-Position ist, dass wir keine Verhandlungen zulassen dürfen. Die US-Position ist: «Es ist nicht die Zeit für Verhandlungen, wir müssen den Krieg fortsetzen, um Russland ernsthaft zu schwächen.» Das ist eine schreckliche Wette auf das Schicksal der Ukraine. Man sagt, lasst uns hoffen, dass Putin, dieser verrückte Hund, im Angesicht der Niederlage still und leise seine Koffer packt, sich nach Hause schleicht und in der Versenkung verschwindet. Er wird die Waffen, die er hat, nicht einsetzen, um die Ukraine auszulöschen. Das ist eine unglaubliche Wette auf das Schicksal der Ukrainer. Ich nehme sie nicht an. Wenn Sie das tun, ist das Ihre Sache.
TV Rain: Aber Sie sagen, dass diese Wette von den USA ausgeht. Aber eigentlich ist das die ukrainische Position. Sie können keinen Millimeter, keinen Meter ihres Territoriums aufgeben, das sagen sie laut, die ganze Zeit, dass sie nach den Gräueltaten, die auf ihrem Territorium begangen wurden, diesem Friedensplan, den Sie erwähnt haben, einfach nicht zustimmen und ihn akzeptieren können.
Noam Chomsky: Deshalb habe ich wiederholt und in Grossbuchstaben gesagt: Die Ukraine muss selbst entscheiden. Es ist also ihre Entscheidung. Aber ich spreche von den Vereinigten Staaten, von Europa, vom Rest der Welt. Auch sie müssen Entscheidungen treffen. Die US-Position ist, dass wir keine Verhandlungen zulassen dürfen, dass wir den Krieg fortsetzen müssen, um Russland ernsthaft zu schwächen, selbst wenn das bedeutet, die Ukraine zu zerstören. Das ist unabhängig von der Ukraine. Wenn die Ukraine will – ich habe die Grundstruktur schon gesagt, ich sage es noch einmal: Entweder es gibt Verhandlungen oder es gibt keine Verhandlungen. Wenn es keine Verhandlungen gibt, dann gibt es entweder eine Pattsituation, in der die Ukraine verwüstet wird, oder die eine oder andere Seite kapituliert, und das wird nicht Russland sein, weil die den Krieg grenzenlos eskalieren können. Wenn also die Ukraine damit konfrontiert werden will, wenn die Ukraine die Krim angreifen will, was militärisch wahrscheinlich unmöglich ist und was die Bevölkerung dort wahrscheinlich nicht will, dann ist das die Entscheidung der Ukraine, nicht meine.
TV Rain: Einer der Gründe, die der Kreml anführt, um in die Ukraine einzumarschieren, ist der Nationalsozialismus. Sie sagen, sie müssten die Ukraine entnazifizieren, es brauche eine Entnazifizierung der Ukraine, es gebe Nazis in Kiew. Was sagen Sie dazu?
Noam Chomsky: Darum geht es bei Verhandlungen und Diplomatie. Es geht bei Verhandlungen und Diplomatie darum, die wichtigen Fragen in den Vordergrund zu stellen und die anderen auszublenden und zu ignorieren. Wichtig ist das, was die Russen immer betont haben: die NATO-Mitgliedschaft und irgendeine Form der Autonomie für die Donbass-Region, das Minsker Abkommen. Die Entnazifizierung ist Russlands Sache, die kann man in den Verhandlungen ignorieren. Das ist der Sinn von Verhandlungen und Diplomatie.
TV Rain: Ich wollte Sie etwas zur Situation in Russland fragen – Sie wissen sehr gut, dass Wladimir Putin ein brutaler Führer ist. Ich kann nicht in Russland sein, meine Kollegen und Freunde, Hunderttausende russische Bürger können nicht dort sein. Welchen Ausweg sehen Sie für die Russen? Auf wen können die Russen zählen, wenn der Westen, in Ihren Worten, ein Heuchler ist?
Noam Chomsky: In den Augen der Welt – und deshalb machen sich die Länder des globalen Südens über diese Heuchelei und die angeblich hohen Prinzipien lustig – waren sie die ganze Geschichte über die Opfer davon, sie erkennen die Heuchelei, wenn sie sie sehen. Was ich über Russland gesagt habe, wiederhole ich: Putin ist ein harter Autokrat, ein Kleptokrat, der sich und seine Freunde bereichert hat, er führt einen harten, autoritären Staat. Das ist leider eine Tatsache in vielen Regionen der Welt und in allen Regionen, in denen die USA dominieren, neigt das System dazu, solche autoritären Herrscher hervorzubringen. Das sind Probleme, die in erster Linie innerhalb des Landes gelöst werden müssen. Russland muss sich intern mit seiner langen, harten, grausamen Geschichte auseinandersetzen. Das kann niemand anders.
TV Rain: Jetzt sprechen wir über den globalen Süden, die Interessen Russlands, die Interessen der USA, die Motive der verschiedenen Seiten. Aber jeden Tag sehen wir, wie in den ukrainischen Städten Kinder getötet werden, wie Städte völlig zerstört werden. Ist es nicht an der Zeit, der Realität ins Auge zu sehen und zu sagen: Hier ist der Aggressor, hier ist das Opfer, wir müssen die Ukraine verteidigen, weil sie für alle wichtig ist? Unterstützen Sie diese Position?
Noam Chomsky: Es ist sehr einfach für uns – für Sie in Ihrer sicheren Position, für mich in meiner sicheren Position – zu sagen: «Russland ist böse, lasst uns hoffen, dass die Ukraine den Krieg gewinnt». Das ist leicht zu sagen. Aber wenn man die Konsequenzen bedenkt, bedeutet das, die Ukraine in die Zerstörung zu treiben. Russland wird nicht kapitulieren, Russland hat die Mittel, den Krieg zu eskalieren, und wir alle wissen, dass Russland den Krieg auf das Niveau des Irak-Krieges heben könnte, auf ein noch höheres Niveau. Sie sagen also: Lasst uns selbstgerecht sein und die Ukraine in die Zerstörung treiben. Das ist Ihre Position.
TV Rain: Aber warum glauben Sie, dass Russland zum Beispiel Cherson verloren hat? Russland konnte Kiew in den ersten Tagen des Krieges nicht einnehmen, oder? Russland konnte Cherson nicht einnehmen, Russland hat Teile der besetzten Gebiete verloren.
Noam Chomsky: Wenn Sie das Risiko eingehen wollen, dass Russland kapituliert, nur zu. Aber Sie sind der schlimmste Feind der Ukraine, den ich je getroffen habe, weil Sie sagen: Lasst uns hoffen, dass Russland kapituliert und nicht seine fortgeschritteneren Waffen einsetzt, um die Ukraine im Wesentlichen zu zerstören.
TV Rain: Ich sage nicht, ich frage. Ich sage nicht, dass Russland kapituliert oder dass Russland die Ukraine zerstört. Ich frage, wir haben mehrmals gesehen, wie Russland zurückgewichen ist. Warum ist das passiert?
Noam Chomsky: Warum rüsten wir dann nicht die Ukraine weiter auf, damit die Ukraine Russland besiegt? Das sagen Sie doch.
TV Rain: Ich frage nur: Warum glauben Sie, dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnen kann?
Noam Chomsky: Weil ich in der realen Welt lebe und die Fakten dieser Welt sehe, keine Träume. Die Fakten sind, dass Russland ein unbegrenztes Zerstörungspotenzial hat, das wissen wir alle, Sie und ich. Jetzt verwetten Sie die Ukraine, indem Sie sagen: Vielleicht wird Putin, wenn er mit einer Niederlage konfrontiert wird, dieses verrückte Monster, seine Koffer packen, still und leise verschwinden und seine Vernichtungswaffen nicht einsetzen, um die Ukraine auszulöschen. Sie wollen diese Wette über das Schicksal der Ukraine eingehen. Das ist Ihre Sache. Nicht meine.
TV Rain: Okay, aber er hat noch keine taktischen Atomwaffen eingesetzt. Ich frage mich nur: Versteht er nicht, dass der Einsatz von Atomwaffen auch für Russland verheerend wäre?
Noam Chomsky: Es wird sicherlich verheerend sein, aber wenn man bereit ist, jedes Risiko einzugehen und darauf besteht, diesen Krieg bis zum Äussersten zu treiben, wie Sie sagen, dann steht viel auf dem Spiel. Sie sagen, lasst uns versuchen, die Ukraine zum Sieg zu führen, und wir werden darauf wetten, dass Putin die Waffen, die er hat, nicht einsetzt, sondern still in den Selbstmord geht. Das sagen Sie.
TV Rain: Nein, das sage ich nicht. Ich bin Journalistin und ich versuche, Fragen zu stellen. Wofür stehen Sie? Ich stelle Fragen über Ihre Position und versuche, Gegenargumente vorzubringen.
Noam Chomsky: Meine Position ist ganz klar. Ich möchte nicht, dass die Vereinigten Staaten – mein Land, auf das ich Einfluss habe, nicht die Ukraine, die machen kann, was sie will – ich möchte nicht, dass die Vereinigten Staaten eine diplomatische Lösung ablehnen, um Russland zu schwächen, egal was mit der Ukraine und der Welt passiert. Dafür bin ich nicht.
TV Rain: Herr Chomsky, vielen Dank für das Gespräch, es war sehr interessant.
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