Satellitenbilder der Zerstörung

Transkript des Films von «ARTE Hintergrund»:
(0:06) Beit Hanun, im Norden des Gazastreifens. Hier begann die israelische Gegenoffensive im Oktober 2023. (0:14) Die Stadt hatte damals rund 52.000 Einwohner.
Wie Satellitenbilder zeigen, wurde sie dem Erdboden gleich gemacht. (0:20) Auch die Felder in der Umgebung, grösstenteils zerstört. (0:28) Laut UNOSAT, dem UN-Analysedienst für Satellitenbilder, sind zwei Drittel der Anbauflächen im Gazastreifen verwüstet.
(0:35) Ein enormes Problem für die Bevölkerung, die in ihrer Gemüse- und Obstversorgung so gut wie autonom war. (0:40) Im Norden herrscht Hunger, umso mehr, weil auch die Nahrungshilfe nicht mehr ankommt. (0:46) Es gibt noch einige Privatunternehmen, die es schaffen, Gemüse und Obst in den Gazastreifen zu bringen.
(0:52) Aber die verlangen abnormale Preise. Zehn bis zwanzig Mal so viel wie früher. Das können sich die wenigsten leisten.
(1:01) Die Preise sind unvorstellbar. 100 Euro für ein Kilo Tomaten und 70 Euro für ein Kilo Kartoffeln. Wo gibt’s denn sowas?
(1:10) Das ist das Perverse: Die Israelis bombardieren unsere Felder, aber israelische Ware lassen sie durch. (1:19) Sie machen also noch Profit mit dem, was wir kaufen müssen, um essen zu können. (1:23) Und uns bleibt nichts anderes übrig, als diese israelische Ware teuer zu zahlen.
(1:31) Rami Abu Jamus lebt derzeit mit seiner schwangeren Frau und vier Kindern in einem Zelt in Deir al-Bala. (1:38) Mitten unter tausenden anderen Vertriebenen. Er verbringt seine Tage mit der Suche nach Holz, Wasser und Essen.
(1:44) Er hat ein bisschen Zeit gefunden und eine Handyverbindung, um von den dramatischen Zuständen im Gazastreifen zu berichten. (1:51) Von 2,3 Millionen Einwohnern sind zwei Millionen Binnenflüchtlinge. (1:56) Einen Krieg wie diesen hat die Welt noch nicht erlebt.
Von Gaza ist nichts mehr übrig. (2:00) Wir sind alle schon tot, leben aber weiter, leider. Das heisst, wir atmen.
Leben kann man das nicht nennen. (2:07) Wir begeben uns, dank weiterer Satellitenbilder, nach Sheikh Radwan, einem Viertel im Norden von Gazastadt, weitgehend zerstört. (2:15) Bekannt ist es für seinen Friedhof, auf dem der Hamas-Gründer Ahmad Yassin begraben liegt.
(2:20) Auch der Friedhof ist teilweise zerstört. In Gelb, die Gräber, die es nicht mehr gibt. (2:26) Letztes Frühjahr wurde fast die Hälfte der 45 Friedhöfe im Gazastreifen verwüstet.
(2:31) Laut offiziellen Angaben suchten die israelischen Soldaten dort nach Leichen von Geiseln. (2:36) Ein weiterer bekannter Ort in Sheikh Radwan ist das Regenwasserreservoir, hier im Jahr 2023 und hier 2024. (2:43) Wegen der Bombardements ist es mit Abwässern verseucht, Wasser ist absolute Mangelware.
(2:48) Viele Leute versuchen inzwischen, Brunnen zu graben. Es gibt kein Trinkwasser mehr. (2:54) Zum Glück ist das Meer nicht weit, aber sich im Meerwasser zu waschen, das ist nicht sehr angenehm mit dem ganzen Salz.
(3:01) Ich schäme mich, das zu erzählen, aber wir haben fast nichts mehr. (3:05) Keine Seife, kein Shampoo, keine Windeln für meinen Sohn, nicht einmal Monatsbinden für die Frauen. (3:11) Wir haben nichts mehr.
(3:14) Die Israelis töten uns nicht nur, sie machen nicht nur den Hunger zur Kriegswaffe, sondern auch die Hygiene. (3:22) Sie wollen, dass wir dreckig bleiben. (3:27) Das sind Satellitenbilder von Almukraka und Alsara, zwei Vorstädte im Süden von Gazastadt mit 11.500 und 5.300 Einwohnern vor dem Krieg.
(3:38) So sahen sie damals aus. Und so heute. (3:41) Laut UNOSAT waren im Mai 2024 Infrastruktur und Bausubstanz in Gaza zu zwei Dritteln zerstört.
(3:48) Hier stand eine Moschee. Mehr als 600 zerstörte Moscheen hat das palästinensische Statistikbüro seit vergangenem Jahr gezählt und drei Kirchen. (3:56) Hier stand eine Schule.
Über 400 Grundschulen, Gymnasien und Universitäten wurden zerstört oder beschädigt. (4:02) Sie dienten oft Binnenflüchtlingen als Notunterkunft. (4:05) Die Schulkinder sind jetzt alle am Arbeiten.
Sie müssen den Eltern dabei helfen, das Überleben zu sichern. (4:13) Sie verkaufen Wasser oder sonst was auf dem Markt, aber sie müssen alle arbeiten. (4:18) Das Problem dabei ist, dass sie damit doch ein bisschen etwas verdienen und deshalb gar nicht mehr in die Schule zurück wollen.
(4:26) Nicht nur Schulen, auch Krankenhäuser werden bombardiert. In Khan Yunis zum Beispiel weiter südlich. (4:33) Hier die Nasser Klinik 2023.
So sieht sie heute aus. (4:39) Hier fehlt das Dach, mehrere Gebäude liegen in Trümmern. Im Februar haben die israelischen Soldaten das Krankenhaus belagert.
(4:45) Laut dem palästinensischen Statistikbüro sind 34 Krankenhäuser komplett stillgelegt, 25 weitere beschädigt. (4:55) Jedes Mal, wenn die Besatzungsarmee in eine Stadt einmarschiert, ist das Krankenhaus ihr erstes Ziel. (5:01) Sie behaupten jedes Mal, dass sich dort Hamas-Kämpfer verstecken.
(5:05) Jedes Mal reden sie von einer Kommandostelle. Es läuft immer gleich, genau wie im Al-Shifa-Krankenhaus. (5:12) Sie sind gekommen, haben alles niedergebrannt und verwüstet.
(5:17) Das Untergeschoss mit der angeblichen Kommandostelle hat es dort aber nie gegeben. (5:22) Sie wollen alle von der Hamas betriebenen öffentlichen Dienste vernichten. (5:26) Und die erste Zielscheibe ist das Gesundheitswesen.
(5:32) Das sind Satellitenbilder von Rafah, ganz im Süden des Gazastreifens. (5:36) Auch hier wurden ganze Viertel dem Erdboden gleichgemacht. (5:39) Unweit der Stadt verläuft der Philadelphia-Korridor, ein Pufferstreifen zwischen dem Gazastreifen und Ägypten, den Israel kontrollieren will.
(5:47) Die Bilder zeigen es deutlich. Sämtliche Häuser entlang der Grenze liegen in Trümmern. (5:51) Insgesamt haben die Israelis im Gazastreifen 360.000 Gebäude zerstört.
(5:56) Die Israelis kennen keine rote Linie. Sie haben Museen zerbombt und niedergebrannt. (6:02) Tausend Jahre alte Kulturschätze wie den Hammam von Gaza dem Erdboden gleichgemacht.
(6:09) Genau wie unsere archäologischen Städte. (6:13) Hinter all dem steckt die Absicht, unsere Kultur, unsere Zugehörigkeit als Menschen auszulöschen. (6:20) Obwohl, Mensch ist schon zu viel gesagt.
Sie betrachten uns nicht als Menschen. (6:25) Sie wollen unsere Beziehung zu dem Land brechen, auf dem wir leben. Deswegen zerstören sie alles.
(6:32) Ob in Gaza, Syrien oder in der Ukraine, Satellitenbilder machen die Verwüstungen des Krieges heute für alle sichtbar. (6:38) In unserem Fall kommen sie von Vertical 52, Partnerunternehmen von Arte. (6:43) Es betreibt Satellitenjournalismus und verwendet dazu hauptsächlich Material der Europäischen Raumfahrtagentur, (6:49) gelegentlich auch von privaten Firmen, die besonders hochauflösende Bilder liefern.
(6:53) Ein Pixel entspricht in etwa 15 Zentimetern. (6:58) Mit sehr hoher Auflösung können wir ohne weiteres Fahrzeuge und sogar Personen erkennen. (7:04) Wir benutzen auch Algorithmen zur Bildbehandlung, um verschiedene Ursachen von Zerstörungen unterscheiden zu können.
(7:12) Eine Wasserfläche erzeugt zum Beispiel andere Reflexionen als eine raue oder staubige Oberfläche. (7:21) Das Wichtigste ist aber, jedes Bild in seinen Kontext einzuordnen. (7:25) Wir dürfen uns nicht einfach auf ein Satellitenbild aus dem All verlassen.
(7:29) Wir müssen immer seinen Kontext vor Ort begreifen. (7:33) Es gibt vielfältige Gründe, auf Satellitenbilder zurückzugreifen, etwa weil eine Region wie ein Kriegsgebiet nicht zugänglich ist (7:40) oder weil man die Dimension eines Phänomens zeigen will. (7:44) Im spezifischen Fall von Gaza wollten wir uns einen Eindruck von den Ausmassen der Zerstörungen verschaffen, über ein Jahr Krieg hinweg.
(7:53) Das gelingt ja nicht, indem wir von Haus zu Haus gehen und die Schäden aufnehmen, (7:58) weil der Gaza-Streifen nicht komplett zugänglich ist, nicht einmal für die lokalen Journalisten. (8:04) Die Satellitenbilder enthüllen auch, wie massiv Israel Artillerie und Bombardements aus der Luft einsetzt. (8:10) Letztere sind im Gaza-Streifen häufiger als in der Ukraine.
(8:13) Dabei fallen präzisionsgelenkte Bomben, aber auch ungelenkte 250- und 500-Kilo-Bomben, die grossflächig zerstören. (8:21) Offenbar eine gezielte Strategie. (8:24) Mit der Zerstörung ganzer Viertel zwingt die israelische Armee die Bewohner zur Flucht und kann die Flüchtenden dann filtern.
(8:31) Die Identität der Flüchtenden wird geprüft, die feindlichen Kämpfer unter ihnen werden ausgesondert (8:37) und die in den Ruinen Verbliebenen anschliessend aktiv aufgespürt. (8:42) Um die Hamas-Kämpfer aus ihren unterirdischen Stellungen zu zwingen, (8:47) hätte Israel auch den gesamten Gaza-Streifen besetzen und jeglichen Nahrungs- und Waffennachschub unterbinden können. (8:53) Dazu hat die israelische Armee aber nicht genügend Soldaten.
(8:57) Sie spürt den Feind deshalb mit Satellitenbildern auf, deren Auswertung erstmalig in diesem Krieg die KI übernimmt. (9:08) Künstliche Intelligenz ist hauptsächlich deswegen interessant, (9:11) weil sie in der Lage ist, sämtliche Daten aus sämtlichen Quellen zu fusionieren. (9:17) Die Daten kommen dabei einerseits von den Truppen am Boden, die laufend Informationen über ihre taktische Umgebung liefern, (9:24) andererseits von Flugzeugen und Satelliten am Himmel.
(9:28) Dazu kommen noch Daten aus weniger klassischen Quellen, wie etwa den sozialen Netzwerken. (9:34) Feindaufspürung im grossem Mass erfordert enorm viel Auswertungsarbeit. (9:39) Viel mehr, als allein mit menschlichen Fähigkeiten zu bewältigen ist.
(9:44) Je weniger Zeit menschliche Operateure haben, um ein potenzielles Ziel zu validieren, (9:48) desto mehr tendieren sie dazu, sich einfach auf die KI zu verlassen. (9:53) Das erhöht am Ende aber das Fehlerrisiko und die Kollateralschäden. (9:57) Dem palästinensischen Gesundheitsministerium zufolge wurden seit Kriegsbeginn fast 42.000 Menschen getötet.
(10:03) Der Kriegsschutt wird auf 40 Millionen Tonnen geschätzt. (10:07) Laut einem UNO-Bericht werden Räumung und Wiederaufbau im Gazastreifen wohl mindestens 15 Jahre dauern.