«Vulnerable» vor Kritik schützen?

In den letzten Jahren ist das Thema Redefreiheit – in Deutschland: Meinungsfreiheit1– zu einem Zankapfel in der politischen Diskussion geworden. Befragungen zeigen eine in Teilen der Bevölkerung verbreitete Befürchtung, «in eine Schublade gesteckt» und als Menschenfeind, Sexist oder Rassist moralisch diskreditiert zu werden, wenn man die «falschen» Themen auf die «falsche» Weise anspricht.2 Unter Konservativen, aber auch innerhalb der linksalternativen Szene und unter queeren Aktivisten klagt man über Sprechverbote und Tabuisierungen, die mit autoritärem Gestus und moralischen Diffamierungen gegen Nonkonformisten durchgesetzt werden.3 2021 antworteten nur noch 45 Prozent der Befragten in Deutschland mit «ja» auf die regelmässig wiederholte Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Allensbach – «Haben Sie das Gefühl, dass man heute in Deutschland seine politische Meinung frei sagen kann, oder ist es besser, vorsichtig zu sein?» Das ist der niedrigste Stand seit Beginn der Meinungsumfragen.4 Es ist allerdings nicht klar, inwieweit diese Antwort nur die gefühlte Redefreiheit wiedergibt oder auch eine politische Positionierung im Kontext einer Debatte darstellt, in der die Beteiligten dazu neigen, sich in zwei Lager aufzuteilen: Während viele derjenigen, die sich dem linken Spektrum zurechnen, ungeachtet der auch dort zu vernehmenden Klagen heute oft bestreiten, dass es überhaupt ein Redefreiheitsproblem gibt, behaupten diejenigen, die sich eher im konservativen Spektrum verorten, mitunter gar eine «Meinungsdiktatur», die an DDR-Zeiten erinnere.5 Ob eine Person bekundet, sich in ihrer gefühlten Redefreiheit eingeschränkt zu fühlen, scheint also auch von ihrer politischen Selbstzuordnung abzuhängen; nicht nur davon, welche Bedeutung sie der gefühlten Redefreiheit einräumt, sondern auch von ihrer Einschätzung, welche Diagnose ihre politische Seite eher unterstützt oder schwächt.

Hinter dem Streit über die Frage, ob und wodurch derzeit die Redefreiheit eingeschränkt wird, verbergen sich normative Fragen: Welchen Wert sollte man der Redefreiheit beimessen und wo sind ihr vernünftigerweise Grenzen zu ziehen? Wie ist sie im Verhältnis zu anderen Werten zu gewichten? Während die einen davon ausgehen, dass Redefreiheit grundlegend für die Demokratie ist und bedeutet, dass jeder im Sinne der griechischen Parrhesia alles sagen darf, vertreten andere die Auffassung, dass eine solche Redefreiheit gerechterweise erst in einer vollkommen gleichen Gesellschaft eingelöst werden könnte. Gestützt auf akademische Diskussionen über Foucault,6 Critical Race Theory und feministische Sprachkritik wird argumentiert, dass die Rede unter ungleichen Machtverhältnissen eine der Techniken darstellt, durch die privilegierte Gruppen ihre Macht ausüben, indem Menschen durch diskriminierende Äusserungen in Hierarchien eingeordnet und ihnen Gefühle der Über- und Unterlegenheit eingeflösst werden. Unter Berufung auf Austins Theorie der illokutionären Sprechakte werden solche Äusserungen als Sprachhandlungen interpretiert, in denen die Adressaten im wörtlichen Sinne erniedrigt, d. h. in eine niedrigere soziale Position versetzt werden, so wie ein Standesbeamter zwei Personen in den Stand der Ehe versetzt.7 Wenn diese eher allgemeinen sozialtheoretischen Überlegungen in die Forderung münden, bestimmte Begriffe zu verbieten oder Diskussionen zu unterlassen, stützen sie sich neuerdings auf eine weitere, quasi medizinische Annahme: Menschen, die in der Vergangenheit Diskriminierungserfahrungen ausgesetzt waren oder noch sind, seien besonders vulnerabel und daher auch besonders schutzbedürftig mit Blick auf Äusserungen, die als abwertend und verletzend empfunden werden könnten.

Diese Diskussionen werfen viele Fragen auf, die hier nicht geklärt werden können; u. a. die Frage, inwieweit es sinnvoll sein kann, Austins Theorie der Sprechakte von institutionellen Kontexten auf solche ungleicher und dynamischer Machtverhältnisse zwischen sozialen Gruppen zu übertragen. Allerdings ist es (unabhängig von der Plausibilität der erwähnten theoretischen Annahmen) unter Gesichtspunkten der Fairness und sozialen Gerechtigkeit wohl unstrittig, dass die Sprache nicht dazu missbraucht werden sollte, Individuen einzuschüchtern und soziale Gruppen zu unterdrücken. Daraus folgt allerdings noch nicht, dass eine Politik der Repression von Meinungen, die von einigen als rassistisch, sexistisch, transphob oder auf andere Weise menschenfeindlich eingestuft werden, zur Verbesserung und nicht zur Verschlechterung der sozialen und politischen Verhältnisse beiträgt. Einerseits ist es ja in den meisten Fällen strittig, ob eine Äusserung als rassistisch oder menschenfeindlich einzustufen ist, wer befugt ist, dies einzuschätzen, und wie am besten darauf zu reagieren wäre. Andererseits kann der Vorwurf eines Missbrauchs der Sprache zu Zwecken der Unterdrückung und Diskriminierung von Gruppen selbst als Manöver in Macht- und Interessenkonflikten eingesetzt werden. Die Frage, wie die negativen Folgen von Einschränkungen der gefühlten Redefreiheit im Verhältnis zu den positiven insgesamt zu gewichten sind, führt direkt zu der Frage, welche Funktion die Redefreiheit für die Demokratie hat und wieviel Einschränkung sie verträgt. Da diejenigen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, rassistische u. a. menschenfeindliche Sprache zurückzudrängen, sich selbst auf das demokratische Ideal der gleichen Partizipation aller stützen, sich also zweifellos als Demokraten verstehen, möchte ich in den nächsten Abschnitten zunächst auf die Funktion der Redefreiheit für eine liberale Demokratie eingehen.8 Anschliessend werde ich die Rhetorik der Vulnerabilität hinterfragen. Von der unstrittigen moralischen Pflicht, Rücksicht auf die legitimen Interessen von unfair benachteiligten Personen zu nehmen, möchte ich eine identitätspolitische Rhetorik unterscheiden, die Menschen nach äusseren Merkmalen Gruppen zugeordnet, die unabhängig von der Lebenslage der Individuen als «vulnerabel» beschrieben werden. Ich werde an einem Beispiel hinterfragen, inwieweit diese Rhetorik der Vulnerabilität mittlerweile ideologische Funktionen übernommen hat, durch die Interessenkonflikte als moralische Fragen verschleiert werden.

Die Funktionen der Redefreiheit für die Demokratie

Die Freiheit, öffentlich auszusprechen, was man für angebracht hält, und sich mit Andersdenkenden über die gemeinsamen Ziele und Aufgaben zu verständigen, ist für eine liberale Demokratie aus zwei Gründen unverzichtbar.

Der erste betrifft die politische Mitbestimmung. Sie kann in einer liberalen Demokratie, die sich auf die Werte der Gleichheit und Freiheit stützt, nicht auf die Option oder gar Pflicht reduziert sein, sein Kreuz auf einem Wahlzettel zu hinterlassen. Wie der Rechtsphilosoph Ronald Dworkin argumentiert, sind Mehrheitsverfahren zwar notwendig, aber nicht hinreichend für politische Legitimität in einem liberalen Staat. Eine Wahl durch Mehrheitsentscheidung wird auch in vielen undemokratischen Staaten veranstaltet, die nur Unterstützer bzw. Mitglieder aus den engsten Machtzirkeln der Partei oder der religiösen Organisation zur Wahl stellen. Eine liberale Demokratie hingegen muss nicht nur eine echte Parteienvielfalt fördern. Wenn eine demokratisch gewählte Regierung in einem liberalen Staat eine Entscheidung mit Hilfe der Zwangsgewalt des Staates gegen Andersdenkende durchsetzt, muss sie zugleich die Würde auch dieser Andersdenkenden als freier und gleichberechtigter Mitglieder der Gemeinschaft respektieren.9 Die Mehrheit kann nicht verlangen, dass ihre Entscheidungen von einer Minderheit akzeptiert werden, der es verboten ist oder die durch drohende soziale Sanktionen daran gehindert wird, sich in Form von gewaltfreiem Protest, Argumenten oder Einwänden zu Wort zu melden. Jede Bürgerin muss eine faire Chance haben, ihre Einstellungen, Meinungen, Fragen, Ängste, Vorurteile und Wünsche öffentlich zu äussern. Freilich hat sie keinen Anspruch darauf, dass andere ihr Anliegen aufgreifen, es diskutieren oder ihr kritiklos beipflichten. Daher erstreckt sich der rechtliche Schutz der Redefreiheit in öffentlichen Debatten in einer liberalen Demokratie auch nicht nur auf Äusserungen, die ein gewisses intellektuelles Niveau erreichen und kollektiven Bildungsprozessen förderlich sein können. Werden bestimmte Meinungsäusserungen mit staatlichen Mitteln unterbunden, dann verliert der Staat für die betroffenen Personen (pro tanto) seine Legitimation, weil er sie aus dem Prozess der öffentlichen Meinungsbildung ausgeschlossen hat.

Daraus folgt allerdings nicht, dass unter dem Gesichtspunkt der staatlichen Legitimation öffentliche Meinungsäusserungen unter gar keinen Umständen unterbunden werden dürfen.10 Es könnte ja durchaus sein, dass in einem speziellen politischen Kontext aufgrund historischer Umstände bestimmte Sprachhandlungen – Hetze gegen Gruppen, Holocaustleugnung – ebenfalls dazu angetan wären, den Staat zu delegitimieren.

Zweitens haben die Bürgerinnen in einer Demokratie einen Anspruch darauf, sich nicht nur irgendwie öffentlich mitteilen zu können, sondern sich auch eine kompetente Meinung «innerhalb eines diskursiven, unmanipulierten und von sachlichen Argumenten getragenen Prozesses […] bilden zu können».11 Demokratische Kompetenz entwickelt sich nur in einer Debattenkultur, in der die verschiedenen Facetten eines Sachverhalts und die unterschiedlichen Auswirkungen eines Vorhabens auf verschiedene Gruppen von Menschen diskutiert werden können. Nur in der Auseinandersetzung mit Menschen, die andere Dinge für wichtig halten, dieselben Vorgänge anders beschreiben und aus dieser Perspektive unsere Meinungen und Wertvorstellungen hinterfragen, können wir die blinden Flecken in unseren eigenen ungeprüften Vorstellungen erkennen und überwinden. Daher sind die Meinungen Andersdenkender ein zu schützendes öffentliches Gut, wie John Stuart Mill in seinem (gemeinsam mit Harriet Taylor konzipierten) Klassiker Über Freiheit ausgeführt hat:

«[Das] eigentliche Übel, wenn man eine Meinung zum Schweigen bringt, besteht darin, dass es ein Raub an der Gemeinschaft aller ist, an der künftigen und an der, die jetzt lebt, und zwar noch mehr an den Menschen, die von dieser Meinung abweichen, als an denen, die sich zu ihr bekennen.»12

Wie Mill argumentiert, sollten wir auch die Äusserung von Meinungen tolerieren, die uns falsch oder in ihren Folgen schädlich erscheinen. Weil Menschen stets fehlbar sind, hat niemand ein «Recht, die Frage für die ganze Menschheit zu entscheiden und jede andere Person von der Möglichkeit des Urteils auszuschliessen.»13 Auch schlecht artikulierte und Ärgernis erregende Meinungen können ein Körnchen Wahrheit enthalten und helfen, die Perspektive zu erweitern. Das gilt insbesondere im Politischen, wo eine Person, die eine Massnahme befürwortet, die ihren Interessen oder Wertvorstellungen entspringt, in der Regel nie alle Neben- und Folgewirkungen dieser Massnahme für verschiedene soziale Gruppen überblickt.

Da die freie Debatte mit Andersdenkenden nicht unerhebliche emotionale Anstrengungen erfordert, wird sie in der Alltagspraxis oft mit dem Argument abgewehrt, dass solche Diskussionen ja «nichts bringen», weil man sich ohnehin nicht einigen könne. Wer glaubt, dass politische Diskussionen nur dann Sinn ergeben, wenn eine realistische Aussicht auf Einigung besteht, missversteht jedoch die epistemische und ethische Funktion solcher Auseinandersetzungen. Werden sie in einem sachlichen und offenen Ton geführt, können sie uns helfen, die Gründe der anderen Seite besser zu verstehen und damit auch den persönlichen Respekt zu entwickeln, der für eine demokratische Kultur unverzichtbar ist. Ihre vielleicht wichtigste epistemische Aufgabe besteht aber darin, uns selbst in der Konfrontation mit anderen Meinungen einem Erklärungs- und Rechtfertigungsdruck auszusetzen.14 Wir können die Positionen, die wir glauben einnehmen zu sollen, meist erst dann wirklich verstehen, wenn wir sie gegenüber Personen verteidigen müssen, die nicht mit uns übereinstimmen.15 Oft stellt sich erst in solchen Kontroversen heraus, ob man das, was man für die eigene Meinung hielt, schon durchdacht oder nur kursierende Formeln wiedergegeben hatte. Es sind politisch Andersdenkende, die uns mit den unerwünschten Konsequenzen dieser Meinungen konfrontieren und uns nötigen herauszufinden, in welchem Masse wir wirklich bereit wären, für diese Konsequenzen die Verantwortung zu übernehmen. Wo hingegen keine Konfrontation mit anderen Perspektiven stattfindet, etwa unter Bedingungen einer Diktatur, eines extremen sozialen Konformismus oder wenn man sich nur noch in sogenannten Meinungsblasen bewegt, kann es zu dem Phänomen kommen, das Hannah Arendt mit Blick auf Adolf Eichmann als die Abwesenheit eigener moralischer und politischer Urteilskraft beschrieben hat: Menschen versuchen nicht mehr, selbst zu denken und zu urteilen, zumal wenn sie davon Nachteile befürchten, und geben in der Kommunikation nur noch Klischees und Sprachhülsen weiter. Stereotype, Floskeln, standardisierte Ausdrücke und Redewendungen übernehmen dann die Funktion, die Person vor der Auseinandersetzung mit der Realität zu schützen.16

Sozialpsychologische Gefahren und (Un-)Tugenden der Debattenkultur

Eine freie Debatte unter Andersdenkenden ist auch notwendig, um den epistemischen Gefahren zu begegnen, die sich aus typischen soziopsychologischen Mechanismen in Gruppen ergeben. Denn auch in Diskussionen, die nicht von aussen reglementiert sind, setzt sich nicht automatisch – im Sinne des Stereotyps des «Marktplatzes der Ideen» – die bessere bzw. wahrheitsnähere Meinung durch.

Sozialpsychologische Untersuchungen zeigen, dass Informationen und Bedenken in Gruppen oft zurückgehalten werden, wenn statushohe Mitglieder einer Gruppe gewollt oder unabsichtlich Druck auf andere ausüben, oder wenn die Mitglieder davor zurückschrecken, sich mit Informationen oder Vermutungen zu exponieren, die in eine andere Richtung weisen als die beispielsweise in einer Sitzung zuerst präsentierten Informationen und Einschätzungen.17 Sie wollen sich dann nicht mit einer Annahme, die von den anderen abgelehnt wird, ins soziale Abseits begeben. Das kann sich jedoch schnell ändern, wenn Einzelne bereit sind, dem scheinbaren Gruppenkonsens mit Blick auf die Tatsachen oder die Bewertungen zu widersprechen. Die Redefreiheit kann daher ihre epistemische Funktion für die Entwicklung kollektiver Kompetenz nur erfüllen, wenn Einzelne den Mut entwickeln, in Diskussionen «gegen den Strom zu schwimmen». Auch in sozialen Kontexten, wo es primär um Macht und Status geht, werden sich die an einer Diskussion Beteiligten vor allem fragen, ob es ihnen (oder anderen) nützen oder schaden würde, eine Information weiterzugeben, geäusserte Behauptungen zu hinterfragen oder eine eigene Meinung zu äussern. Sie werden ihre Informationen und Meinungen nur dann einbringen, wenn das Interesse an der Wahrheitsfindung und ein Bewusstsein der Verantwortung für den Erfolg des gemeinsamen Meinungsbildungsprozesses die selbstbezogenen Klugheitserwägungen übertrumpft.

Die Bereitschaft, ohne Selbstzensur eigene Informationen und Einschätzungen zur öffentlichen Diskussion beizutragen, nimmt zudem stark ab, wenn die Beteiligten damit rechnen müssen, dass eine missverständliche Äusserung ohne Rückfrage zum Anlass einer Interpretation genommen werden könnte, die der Sprecherin unmoralische Motive unterstellt. Neben dem Interesse an der Wahrheit und Mut zum Widerspruch muss daher eine gewisse Grosszügigkeit kultiviert werden, die sich in der Bereitschaft zur wohlwollenden Interpretation ausdrückt.18 In öffentlichen Auseinandersetzungen über politische Fragen in einem Klima der Polarisierung ist eine wohlwollende Interpretation besonders dann gefordert, wenn Äusserungen irritieren, weil sie nicht mit den eigenen Wertvorstellungen harmonieren. In einer Gesellschaft mit einem gewissen Wertepluralismus sollten alle davon ausgehen können, dass sie auch dann noch mit Respekt und nicht mit Zorn oder Verachtung behandelt werden, wenn sich im Gespräch herausstellt, dass die Gesprächspartner manche Sachverhalte moralisch und politisch ganz anders beurteilen. Wer von der Kapitänin Carola Rackete als Retterin von ertrinkenden Flüchtenden im Mittelmeer schwärmt, wird freilich Mühe haben zu verstehen, dass andere sie als eine Komplizin von Schleppern betrachten, die mit ihrem Tun Anreize für weitere lebensgefährliche Fluchtbewegungen und kriminellen Gewinn schafft – und umgekehrt. Da die Gesprächspartner ihre Aufmerksamkeit jeweils auf eine andere Auswahl von relevanten Fakten richten, könnten sie einander epistemisch ergänzen. Das wird allerdings nur dann möglich sein, wenn beide Seiten sich darauf verlassen können, dass die Gesprächspartnerin nicht vorschnell mit diffamierenden Begriffen wie «kriminell», «rotgrünversifft», «rassistisch», «menschenverachtend» etc. und Gefühlsäusserungen wie Entsetzen, Zorn und Verachtung auf Äusserungen reagiert, die sie als moralisch falsch empfindet. Mill hat es als das «grösste Unrecht […], dessen man sich in der Polemik schuldig machen kann» bezeichnet, «die Anhänger der anderen Ansicht als schlechte und unmoralische Menschen» anzuprangern.19 Auf moralische Kritik ganz zu verzichten, ist allerdings nicht zu empfehlen, denn sie hat im Fall von Normverletzungen auch eine wichtige soziale Funktion. Es stellt sich daher in jedem Fall von neuem die Frage, wo die Grenze zwischen erwünschter und legitimer moralischer Kritik auf der einen Seite, und den vielen Formen des Moralismus – unangebrachten Vorwürfen, moralischer Diffamierung und moralischem Terror – auf der anderen Seite verläuft.

Das Schadensprinzip und die Rhetorik der Vulnerabilität

Auch die freie Rede bedarf gewisser kontextabhängiger Regeln und Tugenden, um ihre Funktion erfüllen zu können. In diesem Zusammenhang wäre einerseits zu überlegen, welche Probleme durch Gesetze geregelt werden sollten und bei welchen Problemen soziale Signale oder Formen freiwilliger Selbstbeschränkung sinnvoller wären.20 Andererseits stellt sich auch die Frage nach den sprachlichen Möglichkeiten, über die wir verfügen, um wichtige Dinge anzusprechen, ohne damit die Diskussion, die wir führen wollen, zu verunmöglichen. Es geht also eigentlich um zwei Fragen21: Wie frei die Rede sein sollte, und welche Form jeweils die angemessene ist, um einen produktiven Meinungsaustausch und ein wechselseitiges Lernen zu ermöglichen.

Die Freiheiten in einer Gesellschaft müssen kompossibel sein. Das gilt auch für die Rede: Nach John Stuart Mill sollte man nichts sagen, was anderen Menschen (im jeweiligen Kontext) unmittelbar Schaden zufügen könnte.22 Das Schadensprinzip bedarf jedoch der Präzisierung. Zudem ist es anfällig für politischen Missbrauch. Das alltägliche Verständnis von Schaden, ein Sammelbegriff für das Eintreten unerwünschter Ereignisse, physischer Zerstörung oder Schmerzen, bietet hier keine Orientierung. Solche Wirkungen sind nicht immer vermeidbar, sie verletzen nicht automatisch die Rechte individueller Personen und werden mitunter sogar vom Recht angestrebt. Die Richterin, die einen Straftäter verurteilt, fügt ihm zweifellos einen erheblichen Schaden zu; die berechtigte Kritik des Trainers am zu schwachen Einsatz kann das Selbstwertgefühl eines Fussballers verletzen. Joel Feinberg hat daher vorgeschlagen, den zu vagen Begriff des Schadens durch den einer unrechtmässigen Schädigung von legitimen Interessen zu ersetzen.23

Nun hat zweifellos jede Person ein legitimes Interesse an ihrer physischen Unversehrtheit. Dieses ist nach einem traditionellen Verständnis von Sprache, das «blosse Worte» nicht als Handlungen versteht, durch Sprache gar nicht verletzbar. Diese ganz strikte Abgrenzung von Sprache und Handlung ist heute aus vielen Gründen nicht mehr haltbar. In neueren akademischen Debatten über Hate Speech und Mikroaggressionen wird diskriminierende Rede in ihren Wirkungen sogar physischer Gewalt angenähert, je nachdem, in welcher sozialen Position sich die Betroffenen befinden und ob es schon eine Geschichte von Marginalisierung und Diskriminierung gibt. Als physische Wirkungen von Hate Speech werden beispielsweise genannt:

«psychological symptoms and emotional distress ranging from fear in the gut, rapid pulse rate and difficulty breathing, nightmares, post traumatic disorder, hypertension, psychosis and suicide.»24

Die Assoziation von Rede mit physischer Gewalt entspringt einer Verschiebung des Fokus bei der Interpretation. Im modernen Verständnis von Handlung stellt die Handlungsbeschreibung, unter der die Handelnde selbst ihr Tun wahrnimmt, ein zentrales und unverzichtbares Element dar. In vielen akademischen Diskussionen über Hate Speech orientiert sich die Beschreibung einer Sprachhandlung als «Hate Speech» oder als «Mikroaggression» jedoch nicht mehr wie im Recht und in der Handlungstheorie primär an den Intentionen der Sprecherin.25 Die Frage, ob eine Mikroaggression vorliegt, zielt nicht mehr auf die subjektive emotionale Haltung des Sprechers, sondern auf die (möglicherweise unbeabsichtigten) potentiellen Auswirkungen des Sprechakts auf «vulnerable» Personen. Entsprechend wurde auch die Autorität mit Blick auf die Frage, was für eine Handlung vorliegt, auf diejenigen übertragen, die sich durch den Sprechakt verletzt fühlen (könnten).26 Aus diesem Grund kann auch eine Rede, die nicht beleidigend gemeint ist, im Prinzip als physische «Gewalt» eingestuft werden. Es kommt vor, dass Studierende gegen die Einladung einer konservativen Rednerin das Argument vorbringen, ihre Worte würden den Studierenden «actual mental, social, psychological, and physical harm» zufügen. 27

Dieser begrifflichen Dehnung des Gewaltbegriffs entspricht die allgemein zu beobachtende Dehnung von Begriffen für die menschliche Verletzlichkeit, die der Psychologie Nick Haslam als Concept Creep bezeichnet hat:28 Auch Begriffe wie «Trauma», «Depression», «Mobbing», «Hass» oder «Sicherheit» werden in den letzten Jahrzehnten auf immer schwächere Phänomene sowie auf neue Bereiche ausgedehnt. Gleichzeitig haben die Begriffe teilweise eine moralische Bedeutung angenommen, wie sich besonders bei dem Begriff Trauma beobachten lässt, der sich in geisteswissenschaftlichen Kontexten von einer medizinischen Kategorie in einen dichten moralischen Begriff mit deskriptiven und evaluativen Elementen verwandelt hat: 29 Als «traumatisiert» werden dort nicht mehr beliebige Personen bezeichnet, die unter bestimmten medizinisch erfassbaren Symptomen leiden, sondern nur Personen, die als Opfer von historischem Unrecht, Gewalt, Diskriminierung betrachtet werden, nicht etwa Täter. Indem man Opfer als traumatisiert bezeichnet, spricht man ihnen einen moralischen Anspruch auf besondere Zuwendung und Rücksicht zu.30 Entsprechend hat sich in diesen Diskussionszusammenhängen die Wahrnehmung der Vulnerabilität von Menschen verändert, die diskriminierten Gruppen zugerechnet werden. Noch vor einigen Jahrzehnten war der Glaube verbreitet, Menschen, die gruppenbezogene Gewalt, Diskriminierung und Marginalisierung erleiden mussten, seien durch diese Erfahrungen «tougher» als andere geworden. Heute ist es umgekehrt in akademischen Kreisen üblich geworden, sie pauschal als fragiler und schutzbedürftiger zu betrachten. Mit Blick auf die hiermit begründeten Versuche, diskriminierende Sprache zu unterbinden und somit die Redefreiheit einzuschränken, stellt sich die Frage, ob es für die Annahme einer physischen Vulnerabilität mit Blick auf Kommunikationen eigentlich eine wissenschaftliche Grundlage gibt.

Der Neurologin Lisa Feldmann Barrett zufolge ist die Annahme einer physischen Auswirkung von psychischem Stress durch «verletzende Worte» nicht ganz falsch. Dabei wäre jedoch zwischen einem Leben im Dauerstress und einem akuten Stress zu unterscheiden. Medizinische Untersuchungen belegen, dass lange Phasen psychischen Stresses in einer konstant feindseligen sozialen Umgebung sich schlecht auf das Nervensystem auswirken und das Gehirn verändern können, mit weiteren physischen Folgen. Dieser Befund ist jedoch nicht auf einzelne Stresssituationen übertragbar, noch zeigt er, dass Stress generell zu vermeiden ist. Ganz im Gegenteil ist das Nervensystem darauf ausgerichtet, periodisch auftretende Stresssituationen zu bewältigen, und nähme eher Schaden durch eine völlige Vermeidung von Stress.31 Während ein einzelner physischer Schlag erheblich verletzen kann, kann eine solche Verletzungsgefahr von «verletzenden Worten» also nur als Element einer dauerhaft feindseligen unmittelbaren sozialen Umgebung ausgehen, der sich die Betroffene nicht entziehen kann – etwa einer toxischen Lebensgemeinschaft, in der eine Person ständig Beleidigungen und Demütigungen ausgesetzt ist.

Die Neurologie liefert uns also keinen Grund, die alte Stereotype «Was uns nicht umbringt, macht uns stärker», mit Blick auf Opfer von Diskriminierung pauschal für weniger zutreffend zu halten als die heute verbreitete Vorstellung, sie seien besonders verletzbar. Beides ist möglich und hängt von den Lebensumständen und auch von der Persönlichkeit der Betroffenen ab – ganz abgesehen davon, dass eine Person zugleich «tough» und verletzlich sein kann. Ob Menschen vulnerabel sind oder nicht, lässt sich jedenfalls nicht allein aus der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen oder Klassen herleiten, sondern aus der Weise, wie sie selbst auf soziale Erfahrungen (etwa der Ausgrenzung oder Diskriminierung) reagieren und ihr Leben gestalten. Dass Menschen, die benachteiligt oder gedemütigt wurden, die Solidarität derjenigen verdienen, die es im Leben leichter haben, ist kein guter Grund, sie als Gruppe auf den Status der an und für sich Schwachen und Vulnerablen festzulegen. Es ist zudem ethisch fragwürdig und verschleiert die Dynamik von Machtverhältnissen.

Ist aus der Rhetorik der Vulnerabilität eine Ideologie geworden?

Die pauschale Zuschreibung von Vulnerabilität zu Gruppen oder Klassen erscheint insbesondere fragwürdig mit Blick auf Minoritäten, denen es gelungen ist, die öffentliche Wahrnehmung zu ihren Gunsten zu «drehen» und die als Interessenverbände und Pressure Groups sozialen Status und beträchtlichen medialen und institutionellen Einfluss erlangt haben. Der Status eines Opfers in einer von christlichen Werten geprägten Gesellschaft ist selbst ein beträchtlicher Machthebel, da er zur Solidarisierung einlädt. Daher kann beispielsweise eine Transgenderperson, die als Individuum immer wieder Opfer verständnislosen oder feindseligen Verhaltens durch andere Individuen ist, gleichzeitig als Mitglied einer medial und institutionell einflussreichen Transgender-Organisationen politisch mächtig sein.

Wenn diese Dynamik und Dialektik der Macht ignoriert wird, kann die moralische Rhetorik der Vulnerabilität ideologische Funktionen übernehmen. Dies geschieht, wenn durch sie Macht-, Interessen- und Wertkonflikte verschleiert werden, ob es nun um die Erhaltung der Machtinteressen dominanter Gruppen oder um die Durchsetzung der Machtinteressen vormals marginalisierter Gruppen oder ihrer Funktionäre geht. Wenn beispielsweise Muslime nicht wie Christen als eine Vielzahl verschieden denkender Individuen und institutionell organisierter Gruppen wahrgenommen werden, sondern im Lichte der identitätspolitischen Konstruktion einer vulnerablen, von allen Muslimen geteilten islamischen Identität, dann wird Kritik an speziellen islamischen Vorstellungen und Praktiken als «islamophober» Angriff auf diese verletzliche Identität erscheinen. Begriffe wie «Islamophobie», die ähnlich pauschal eingesetzt werden wie «Vulnerabilität», dienen dann dazu, den entscheidenden moralischen Unterschied zwischen zwei unterschiedlichen Reaktionen auf Muslime zu verschleiern: Einerseits die moralisch inakzeptable Verfolgung oder soziale Benachteiligung von Muslimen, andererseits die Kritik an religiösen Dogmen oder gruppentypischen sozialen Praktiken, die liberale Werte oder Frauenrechte verletzen. Eine solche Kritik muss in liberalen Demokratien an allen Religionen und sozialen Gewohnheiten möglich sein. (Man stelle sich einmal vor, Kritik an der Reaktion der katholischen Kirche auf die Missbrauchsfälle oder an der Nichtzulassung von Frauen als Priesterinnen würde von der katholischen Kirche als «Christianophobie» gebrandmarkt.) Indem Kritik zu Phobie erklärt wird, kann der Kampf gegen Diskriminierung in eine Verfolgung Andersdenkender umgelenkt werden, wie es Sama Maani beschreibt: «Anstatt dass es um den Schutz einzelner Menschen vor Diskriminierung ginge, wird mit dem Begriff Islamophobie so getan, als wäre der Islam ein Individuum, dem Menschenrechte und Schutz zustünden, obwohl Menschenrechte doch Individualrechte sind… Anstatt aber die Individuen gegen Unrecht zu schützen, wird mit dem Konzept der Islamophobie der Islam zum schützenswerten Subjekt erklärt und Kritik am Islam gilt auf einmal als Rassismus.»32

Ähnliches ist im Zusammenhang der Solidarisierung von Akademikern mit dem Kampf von Transgenderpersonen für gesellschaftliche Anerkennung und Schutz gegen Angriffe auf ihre Würde zu beobachten. Wenn die Solidarisierung mit Personen mittels der Ideologie der Vulnerabilität in eine Verfolgung von Kritikern umgelenkt wird, wird die demokratische Streitkultur als solche beschädigt, deren Aufgabe ja darin besteht, Interessenkonflikte offenzulegen und die damit verbundenen Sachfragen auszudiskutieren.

Ein mittlerweile recht bekanntes Beispiel ist der Fall der Philosophieprofessorin Kathleen Stock: Sie war in England aufgrund ihrer Kritik an einem von Transgenderorganisationen geforderten Zusatz zum «Gender Recognition Act» öffentlichen Anprangerungen der Transphobie und Verfolgungen bis hin zu Morddrohungen gegen ihre Familie ausgesetzt, bis sie schliesslich ihre Professur aufgab. Bei dem Konflikt ging es um die Frage, ob auch biologische Männer, die sich ohne eine medizinische und psychologische Geschlechtsangleichung selbst zu Frauen erklären, ohne jede Einschränkung rechtlich als Frauen anzuerkennen sind. Berücksichtigt man allein die Interessen der betroffenen Transfrauen, dann spricht in der Tat viel für die Forderung, denn Transfrauen müssen in den Männertrakten von Gefängnissen oder in Toiletten oft mit Anfeindungen oder gar Angriffen rechnen. Auch Stock hatte dafür plädiert, das selbstgewählte Geschlecht weitmöglichst zu respektieren und Regelungen zu finden, welche die Sicherheit und Würde von Transfrauen gewährleisten. Das biologische Geschlecht rechtlich ganz abzuschaffen, hält sie jedoch bis heute für einen falschen Weg, da sich aus den physischen Unterschieden medizinische und damit auch soziale Differenzen ergeben, die zu leugnen lebensfremd wäre. Stock fürchtet bei einer rechtlichen Nivellierung der Unterschiede zwischen Transfrauen und biologischen Frauen nicht nur eine Bedrohung des Frauensports, sondern vor allem erhöhte Risiken für sozial gefährdete Frauen durch biologische Männer, die sich als Trans ausgeben.33 Sie schlägt vor, weiterhin geschützte Bereiche wie Toiletten, Gefängnisstrakte, Umkleidekabinen, Gruppentherapien in Vergewaltigungsfällen, Obdachlosenunterkünfte allein für biologische Frauen als das physisch schwächere Geschlecht zugänglich zu machen, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Auch bei Stellen, die geschaffen werden, um die biologisch bedingten Karrierenachteile der Schwangerschaft und frühen Kinderversorgung auszugleichen, spricht sie sich gegen eine Ersetzung des biologischen durch das gewählte Geschlecht aus.

Das sind schwerlich «Hassreden». Schliesslich kann eine jede Gesetzgebung wie alle Handlungen für unterschiedliche Betroffene unterschiedliche Konsequenzen haben. Was für die einen den Selbstbestimmungsspielraum erweitert, kann für die anderen den faktischen Abbau von Privilegien, Schutzbereichen und eine Benachteiligung in physisch kompetitiven Bereichen zur Folge haben. Solche Diskussionen anzustossen, ist keine unrechtmässige Schädigung der legitimen Interessen von Transpersonen, sondern sollte eine Normalität in einer Gesellschaft sein, in der die Interessen vieler Gruppen immer wieder in Konflikt geraten können. Nur mittels einer sachorientierten Überprüfung von Behauptungen und Einwänden könnte ein Kompromiss gefunden werden, mit dem alle Beteiligten einverstanden sein können. Stock nahm ihr Recht als Hochschullehrerin wahr, eine detaillierte Auseinandersetzung in einem heiklen Themenbereich zu fordern, so wie ihr Recht als Bürgerin und lesbische Feministin, sich für die legitimen Interessen von Frauen einzusetzen.

Die Folgen sind bekannt: sie wurde durch 700 ihrer internationalen Kollegen und Kolleginnen aus der Philosophie in einen Offenen Brief vom Januar 2021 öffentlich für «transphobic fearmongering» und «attacks on already marginalized people» an den moralischen Pranger gestellt. In diesem Brief wurden Stocks Einwände inhaltlich gar nicht erwähnt; in der ursprünglichen Version des Briefes wurde ihr sogar eine Ablehnung des englischen «Gender Recognition Act» unterstellt, was sie nie vertreten hatte.34 Man kann daher wohl davon ausgehen, dass die meisten Unterschreibenden gar nicht wussten bzw. sich nicht dafür interessierten, worin Stocks Debattenbeiträge tatsächlich bestanden. Anstatt sich mit ihren Argumenten zu befassen, wurde in dem Brief über gefährliche Auswirkungen ihrer Kritik auf Transgenderpersonen als vulnerable Gruppe und den «patriarchalen Status Quo» spekuliert:

«Discourse like that Stock is producing and amplifying contributes to these harms, serving to restrict trans people’s access to life-saving medical treatments, encourage the harassment of gender-non-conforming people, and otherwise reinforce the patriarchal status quo.»35

In meinen Augen ist hier die Grenze zwischen Kritik und moralischer Diffamierung weit überschritten worden. Dass einer lesbischen Feministin vorgeworfen wird, einen patriarchalen Status quo zu fördern, was immer das sein mag, mutet skurril an. Aber wie auch immer man die im Offenen Brief erhobenen Vorwürfe im Einzelnen bewerten wird: selbst wenn die Vorwürfe eine sachliche Grundlage hätten, sollte man an Universitäten eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Stocks Kritik erwarten dürfen, anstatt dass mittels der Sammlung von Namen und Titeln eine Art Autoritätsbeweis für ihre mangelnde Ehrbarkeit als Person geführt wird.

Massnahmen wie der Offene Brief zeigen, wie gefährlich sich die Ideologie der Vulnerabilität auf die akademische Debattenkultur auswirken kann. Nicht die Sachhaltigkeit eines Arguments zählt, sondern die angeblich schädliche Auswirkung einer Kritik auf «vulnerable» Gruppen. Mittels des Stereotyps der vulnerablen Gruppe können wichtige moralische Gefühle wie die Empathie mit Benachteiligten in eine Tyrannei der Werte münden, wie es Nikolas Hartmann in seiner Ethik genannt hat. Hartmann meinte damit das dialektische Phänomen, dass ein selektiv auf bestimmte Werte ausgerichtetes moralisches Bewusstsein von Natur aus zu einer tyrannischen Bevormundung neigt: «Jeder Wert hat – wenn er einmal Macht gewonnen hat über eine Person – die Tendenz, sich zum alleinigen Tyrannen […] aufzuwerfen und zwar auf Kosten anderer Werte […].»36 Auch die derzeit zu beobachtende Kulturrevolution des Sprachgebrauchs kann solche tyrannischen Züge annehmen, etwa wenn begriffliche Änderungen ohne Verhandlung mit den Betroffenen durch drakonische Sanktionen bekannt gemacht werden.

In den letzten Jahrzehnten hat sich in sozialen Schichten, die sich als progressiv verstehen, die Vorstellung verbreitet, beleidigende Begriffe wie Nigger dürften zum Schutz der amerikanischen Nachkommen der versklavten Afrikaner37 nicht einmal mehr zu Bildungszwecken verwendet werden, als ginge von ihnen unabhängig von Kontext und Absicht eine magische Wirkung aus. (Mittlerweile hat sich die quasi-magische Bedeutung auf das noch von Martin Luther King und Malcom X wertneutral gebrauchte Wort Neger übertragen, so dass man, da nur noch vom N-Wort die Rede ist, auch nicht mehr weiss, von welchem Wort eigentlich die Rede ist.) Auch solche Tabuisierungen können in dem Masse tyrannische Formen annehmen, in dem die Gründe, die gegenwärtig für sie sprechen, nicht mehr gegen andere Werte abgewogen werden dürfen, wie in einem bekannten Fall: Donald McNeill, einer der profiliertesten Wissenschaftsjournalisten der USA, verlor seine langjährige Stelle bei der New York Times, weil er auf einer Bildungsreise gegenüber Schülerinnen über die Problematik des N-Worts gesprochen und es zu diesem Zweck auch verwendet hatte. Seine eigenen Kollegen und Kolleginnen in der New York Times hatten seine Entlassung gefordert, obgleich auch sie nicht davon ausgingen, dass er jemanden rassistisch hatte beleidigen wollen, und obgleich er sich entschuldigt hatte.

In einer Gesellschaft, die eigentlich nicht an die magische Wirkung von Worten glaubt, geben solche Vorfälle Rätsel auf. Wie kann das mangelnde Gespür eines Menschen für den Umstand, dass das N-Wort – dass in den USA inzwischen unter ein absolutes Sprachtabu fällt (was kurz vorher noch nicht der Fall gewesen war), bei der Mehrheit in der Redaktion einer traditionell liberalen Zeitung als ein Delikt von einer Schwere betrachtet werden, die weder durch eine persönliche Entschuldigung, noch durch lebenslange Verdienste aufgewogen werden kann? 38 Die Entlassung von McNeill ist unverhältnismässig (mit Blick auf Intention und Kontext der Äusserung) und verletzt das Schuldprinzip, das dem modernen Recht zugrunde liegt. Es ist auch nicht ohne weiteres erkennbar, dass dies durch den möglichen Nutzen einer Tabuisierung der beleidigenden Begriffe aufgewogen werden könnte. Die Erfahrung zeigt, dass eine Tabuisierung die emotionale Wirkung verletzender Sprache eher steigert, wie Judith Butler schon vor 25 Jahren in ihrem bemerkenswerten Buch «Excitable Speech»39 mit Blick auf Sprachtabus bemerkt hat:

«Keeping such terms unsaid and unsayable can also work to lock them in place, preserving their power to injure, and arresting the possibility of a reworking that might shift their context and purpose. That such language carries trauma is not a reason to forbid its use.»40

Tabuisierungen sind auch noch aus einem anderen Grund kontraproduktiv, wie Butler in ihrem Buch hervorhebt: Sie verhindern, dass Menschen Strategien der verbalen und psychologischen Abwehr gegen demütigendes oder feindseliges Sprachverhalten anderer entwickeln. Gerade Beleidigungen scheitern in der sozialen Realität sehr oft, wenn nicht gar in den meisten Fällen, weil der Erfolg dieser Sprachhandlungen dadurch bedingt ist, wie sich die Adressaten zu den negativen Botschaften verhalten. Er hängt davon ab, ob diejenigen, die der Sprecher zu Opfern machen möchte, die Kränkung «annehmen» oder einen Gegenangriff starten, über sie lachen oder sie positiv umwerten. Gerade in Kontexten mit sehr ungleichen Machtverhältnissen entwickeln Menschen oft sehr differenzierte verbale und psychologische Register, um verbale Attacken abwehren und umlenken zu können: Register der ironischen Unterwürfigkeit und Übertreibung, des Spottes, der Aneignung und positiven Uminterpretation von Schimpfworten oder des lustvollen Wettstreits der Beleidigungen wie im battle rap. Historische Prozesse der Selbstermächtigung marginalisierter Individuen und Gruppen sind nie autoritären Regelungen und Protektionsmassnahmen entsprungen, sondern der kreativen Aneignung der Sprache und der gemeinsamen Organisation: Niemand kann heute mehr einen Homosexuellen als Schwulen beleidigen (oder in Nordamerika als «queer»), weil sich die Homosexuellenbewegungen das frühere Schimpfwort längst angeeignet und positiv umgewertet hat.

Gegen Butlers Plädoyer für Selbstermächtigung statt Protektion könnte man einwenden, dass verbale Machtkämpfe zwischen ungleich mächtigen sozialen Gruppen nicht unter Bedingungen sportlicher Fairness ausgetragen werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass die anfänglich Schwächeren auf diese Schwäche festgelegt sind. Auch eine öffentliche Demütigung oder Einschüchterung endet nicht mit der Wirkung auf das Opfer, sondern hat in der Regel eine Fortsetzung. Wenn Menschen als Opfer von ungerechtfertigten Angriffen wahrgenommen werden, haben diejenigen, die von ähnlichen Angriffen betroffen sein könnten, ebenso wie andere, denen an Gerechtigkeit liegt, hinreichenden Grund, dagegen zu protestieren – und wenn der Preis dafür nicht zu hoch ist (wie unter diktatorischen politischen Bedingungen), werden sie auch dazu motiviert sein. Zumindest die öffentlich werdenden Vorfälle von Hate Speech wie in den USA die Verbrennung von Kreuzen (als rassistische Botschaft), Flugblätter gegen Abtreibung oder gegen Schwule, diskriminierende Äusserungen in Talkshows etc. lösen in der Regel Proteste aus, die zu einer Demonstration von Gegenmacht führen und nicht selten neue Organisationen hervorbringen. Die sozialen Machtverhältnisse sind nicht statisch, sondern dynamisch und dialektisch: Gerade aus seiner Machtlosigkeit kann ein Opfer Macht beziehen, weil sich andere verpflichtet fühlen, ihm zu helfen. Das kann einen Prozess in Gang setzen, der die Machtverhältnisse nachhaltig zu seinen Gunsten verändert. Wer wie einige Transgenderorganisationen in England oder islamische Organisationen in Deutschland eine beträchtliche institutionelle Macht entwickelt hat, erwirbt damit auch die Macht, den Opferappeal gegen die Interessen anderer Gruppen oder interner Kritikerinnen einzusetzen. Diesen Forderungen durch moralische Diffamierung legitimer Kritik entgegenzukommen, ist ein Bärendienst an der freien Debatte, die demokratische Gesellschaften dringend brauchen, um allen Gruppen gerecht werden zu können.