Israel-Palästina-Konflikt: Wie jüdisch ist der jüdische Staat?
Das Problem ist die Religion
Theodor Herzl, dem Begründer des modernen Zionismus, schwebte ein liberaler, nichtreligiöser "Judenstaat" (1896) vor, dessen nationale Identität auf der gemeinsamen Geschichte und Erinnerung an die Verfolgung in der Diaspora sowie auf einer pluralistischen Kultur gründen sollte. Im heutigen Staat Israel scheint sich Herzls Vision jedoch nicht zu erfüllen. Die Definition Israels als "jüdischer Staat" ist zu einer Quelle anhaltender Konflikte innerhalb der israelischen Gesellschaft geworden. Zum problematischen Verhältnis von Religion und Politik in Israel kommt mit Moshe Zimmermann eine dezidiert säkulare jüdische Stimme zu Wort.
von Moshe Zimmermann | 8. Dezember 2023
Zusammenfassung:
Moshe Zimmermann diskutiert die sich verändernde Definition und Bedeutung von «Jüdischsein» in Bezug auf den Staat Israel. Er zeichnet nach, wie die säkulare, nationalistische Vision der Gründer Israels im Laufe der Zeit einer religiöseren Auffassung jüdischer Identität gewichen ist.
- Theodor Herzl, der Begründer des modernen Zionismus, hatte die Vision eines liberalen, säkularen “Judenstaats”. Aber heute ist die Definition Israels als “jüdischer Staat” zu einer Quelle anhaltender Konflikte innerhalb der israelischen Gesellschaft geworden.
- Es gibt mehrere Möglichkeiten “jüdisch” zu definieren – als Religion, als Nation, als Ethnie. Dies verursacht Probleme bei dem Versuch, Konzepte wie einen “jüdischen Staat” zu definieren.
- Israels Gründer wie Ben Gurion sahen jüdische Identität in überwiegend säkularen, nationalistischen Begriffen verankert, die mit Idealen nationaler Selbstbestimmung verbunden waren. Sie hofften durch die Förderung jüdischer Einwanderung nach Israel den jüdischen Nationalstaat aufzubauen.
- Anfangs waren die Mehrheit der israelischen Juden (ca. 90%) säkular und marginalisierten die Religion. Im Laufe der Zeit hat die Religion jedoch eine zunehmende Rolle bei der Definition von “Jüdischsein” in Israel gespielt.
- Faktoren, die dies antrieben, sind: Einwanderung religiöserer Juden aus nicht-europäischen Ländern; wachsende politische Macht religiöser Parteien und Institutionen wie dem Rabbinat; der Sechstagekrieg 1967 und die Besetzung vertieften die Verbundenheit mit dem Land aus religiösen Gründen.
- Heute tendieren sogar säkulare Israelis dazu, Jüdischsein in religiöseren/orthodoxeren Begriffen zu definieren. Und der Konflikt mit den Palästinensern hat zunehmend eine religiöse Dimension angenommen anstatt eine rein nationale.
- Der Holocaust und der Antisemitismus sind ebenfalls zentral für die “jüdische” Identität Israels als Antwort auf und fortgesetzten Kampf gegen den Antisemitismus geworden.
- Zusammengefasst hat sich also das Konzept von “Jüdischsein” in Bezug auf Israel in den letzten 75 Jahren von einem überwiegend säkularen, auf jüdische Nation konzentrierten zu einem stärker durch Religion und historische Verfolgung definierten gewandelt. Dies erschwert Lösungen für den Konflikt mit den Palästinensern.
Transkript Moshe Zimmermann:
Wenn wir uns fragen “Wie jüdisch ist Israel?”, dann ist die erste Frage, ob man das überhaupt interpretieren kann oder wie man “jüdisch” definiert. In Wien gab es damals schon jemanden, der definiert hat, wer Jude ist. Das ist sehr bequem, wenn jemand für sich entscheiden kann, wer Jude ist oder was Judentum ist oder was jüdisch ist.
Aber auch innerhalb des Judentums wird darüber gestritten. Es gibt viele Definitionen von Judentum, von Jüdischsein. Das Problem beginnt schon bei der Kombination “Staat Israel” und “jüdisch” als Adjektiv.
Jüdisch ist eigentlich eine delegierte Definition. Judentum ist eine Religion oder Konfession. Wer dieser Religion oder Religionsgemeinschaft angehörte, galt als Jude oder “Bar Jude”, andere nicht.
Diese Definition ist an sich schon kompliziert, weil die Definition der jüdischen Religion, der Umgang mit der jüdischen Religion innerhalb dieser Gemeinschaft unterschiedlich ist. Man kann unterscheiden zwischen den orthodoxen Juden, den so genannten “Gesetzestreuen”, und auf der anderen Seite den Reformjuden, den liberalen Juden – eine Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert. Dies sind zwei unterschiedliche Interpretationen des Judentums als Religion bzw. des Adjektivs “jüdisch”.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob das Judentum überhaupt unter dem Titel Religion subsumiert werden kann. Vielleicht ist Judentum, Jüdischsein etwas mehr. Im 19. Jahrhundert, als die Europäer die Nation erfanden, wurde auch innerhalb des Judentums entschieden, dass Judentum als Nation verstanden werden kann. Jüdisch sein kann auch die Zugehörigkeit zur jüdischen Nation sein.
Die beiden Grundlagen Nation und Religion sind hier nicht identisch. Das bedeutet, dass die Definition von “jüdisch” auf der Grundlage des nationalen Denkens eine andere ist als auf der Grundlage des religiösen Denkens.
Man hat später versucht, hier eine Brücke zu schlagen, aber das ist nicht selbstverständlich. Andere definieren “jüdisch” von einem ganz anderen Standpunkt aus, das ist die ethnische Definition des Judentums oder, was später noch bekannter wurde, die rassische oder rassistische Definition des Judentums.
Vielleicht ist “jüdisch” etwas, wenn eine Gesellschaft nach den Regeln der jüdischen Religion handelt, nach orthodoxer oder reformierter Auslegung. Oder ist “jüdisch” die Zugehörigkeit zu jener ethnischen Gruppe, die immer “Juden” genannt wird? Es gibt also mehrere Möglichkeiten, das Adjektiv “jüdisch” mit Inhalt zu füllen.
Und das ist das grosse Problem, wenn man dann mit dem Begriff “Judenstaat” oder “jüdischer Staat” umgehen will. Es ist nicht klar, was sich hinter diesem Begriff “Judenstaat” oder “jüdischer Staat” verbirgt.
Es gibt eine nächste Frage, die auch sofort relevant ist: Wenn der Staat der Juden, der Judenstaat oder der jüdische Staat so etwas sein soll – ein jüdischer Staat -, dann müsste man eigentlich auch den Begriff Judäa ernst nehmen und verwenden, um den neuen Staat zu bezeichnen, der 1948 entstanden ist.
Die Frage ist erlaubt und nicht jeder, auch nicht in Israel, kann sie beantworten: Warum heisst dieser Staat nicht Judäa, sondern Israel?
Die Entscheidung, wie der Staat heissen soll, ist im letzten Moment gefallen, praktisch in den letzten Tagen vor der Proklamation der Staatsgründung, also 1948. Es ging auch darum, an welche Bewegung man anknüpfen wollte, die letztlich dazu geführt hat, dass man einen Staat für die Juden gegründet hat.
Die Bewegung, die dazu geführt hat, heisst zionistische Bewegung – weil man nach Zion, nach Jerusalem wollte. Man hätte den neuen Staat auch “Staat der Zionisten” nennen können.
Die Wahl fiel auf Israel, nicht auf Judäa, nicht auf Zion. Zum Teil deshalb, weil es schon in der Antike ein Judäa und ein Israel als Teil des jüdischen Volkes in seinem Land gegeben hat. Das ist die Geschichte des jüdischen Volkes in seinem Land, im Land Israel oder in Palästina, wie es in Europa sehr oft genannt wird – die Geschichte einer geteilten Gesellschaft: der Norden Israel, der Süden Judäa.
Man hat versucht, an diese Geschichte anzuknüpfen und musste sich dann entscheiden, ob das eine oder das andere optimal ist. Der Begriff Judäa identifiziert sich nur mit einem Stamm, den es nach der Bibel gegeben hat. Wenn man die Bibel kennt, gibt es zwölf Stämme, und der Vater aller Stämme in Israel hiess Israel.
Also hat man sich für Israel und nicht für Judäa entschieden. Zion war zu schwammig, sagte Ben Gurion, der Staatsgründer. So kam es, dass der jüdische Staat, der auf der Grundlage des Zionismus entstand, Israel hiess und nichts anderes.
Das macht den Umgang mit dem Adjektiv “jüdisch” hier noch problematischer. Bei der Beschäftigung mit Geschichte geht es nicht nur um Fakten, sondern auch um Vorstellungen oder Erwartungen.
Wenn der Staat als Judenstaat konzipiert wird, weil der “Erzvater des Zionismus”, Theodor Herzl, 1896 in Wien das Buch “Der Judenstaat” geschrieben hat, dann muss man bestimmte Erwartungen haben: Welchen jüdischen Inhalt wird dieser neue Staat haben, der seit 1948 existiert und sich rein nennt?
Das ist heute im Rückblick interessant zu erfahren, wie man sich die Zukunft dieses Staates und die Inhalte, die man als jüdisch bezeichnen kann, vorgestellt hat.
Eines war ganz klar: Die Basis der Definition war die Nation. Es war eine jüdische Nation, die den Anspruch erhob, sich selbst zu bestimmen. Nationale Selbstbestimmung war die Basis. Und das Judentum, das man sich vorstellte, war die jüdische Nation.
Die Programme, die Pläne, die Hoffnungen, die Erwartungen richteten sich auf die Entwicklung der jüdischen Nation. Das heisst, das erste Ziel war: Erstens, die Juden davon zu überzeugen, dass sie eine Nation sind – nicht alle waren davon überzeugt, für viele war das Judentum immer noch in erster Linie eine Religion.
Und zweitens wollte man die überzeugten Juden dazu bewegen, die Diaspora zu verlassen und nach Israel, in den neuen Staat, zu kommen. Es ging also um die Einwanderung nach Israel, das war das grosse Ziel.
Das heisst, das Erste, woran Ben Gurion, der Staatsgründer, gedacht hat, war, eine grössere Zahl von Juden, die sich zur jüdischen Nation bekennen, nach Israel zu bringen.
Zum Zeitpunkt der Staatsgründung gab es etwa 600.000 Juden im Land, während es im Ausland etwa elf Millionen gab. Die Verhältnisse sind ganz klar: Im Staat Israel lebt eine kleine Minderheit von Juden. Dieses Ungleichgewicht zu korrigieren, war das erste Ziel und die damit unmittelbar verbundene Erwartung.
Am liebsten wäre es Ben Gurion gewesen, wenn alle Juden auf einmal nach Palästina, nach Israel, ausgewandert wären und die Nation als Ganzes im Nationalstaat Israel gelebt hätte. Das war nicht zu erreichen, bis heute nicht. Was aber tatsächlich geschah, war die Auswanderung nach Israel. Damals waren weniger als zehn Prozent der Juden in Israel, heute sind es etwa 50 Prozent. Aber es ist immer noch nur ein Teil der jüdischen Weltbevölkerung, der in Israel lebt.
Das war ein sehr wichtiges Element. Das heisst: der Schwerpunkt lag nicht auf dem Judentum als Religion. Die jüdische Nation, die entstanden ist, hat sich selbst als eine säkulare Gegebenheit verstanden – eine Erfindung oder eine Gegebenheit, die nur indirekt mit der jüdischen Religion zu tun hat.
Dies ist eine wichtige Entwicklung. Die Nation ist eine moderne Definition seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Diese Nation versucht, sich nicht über die Religion zu definieren. Und die israelische Gesellschaft, die Juden in der Gesellschaft von 1948, tendierten mehrheitlich zu einer Säkularisierung des Judentums, zu einem säkularen Leben.
Das heisst, es ging um eine Marginalisierung der Religion, um eine Privatisierung. Der Staat war nicht in erster Linie ein religiöser Staat oder ein jüdischer Staat im religiösen Sinne. Das war damals die Erwartung. Und es war nicht überraschend, dass die Mehrheit der Israelis, der Juden damals, sozialistische Parteien wählte, die per definitionem sowieso säkular waren, oder bürgerliche Parteien, die in ihrer Mehrheit auch säkular waren, nicht religiös.
Die religiösen Juden in Israel – das ist eine Gruppe, die man definieren kann, also Menschen, für die die Religion das tägliche Leben bestimmt – das waren am Anfang nicht mehr als zehn Prozent der jüdischen Gesellschaft. Hinzu kamen etwa 15 Prozent nicht-zionistische Juden, die zwar in Israel lebten, sich aber von der Idee einer Nation, die an die Stelle der Religion treten sollte, distanzierten.
Im Grossen und Ganzen kann man jedoch sagen, dass die Religion, wenn nicht marginal, so doch eher zweitrangig war. Im Mittelpunkt stand das Judentum als Nation. Die Nation gründet den Staat, das ist der grosse Erfolg. Man kämpft für diesen Staat, das war auch ein wichtiges Element. Die Nation hat ein Militär, eine Armee gegründet und kann so leben wie andere Nationen anderswo, vor allem in Europa. Das war das Modell für Israel 1948.
Die Erwartungen gingen noch weiter: Man erhoffte sich eine Masseneinwanderung von Juden nach Israel, die sich auch den Hoffnungen und Erwartungen der dortigen Juden anpassen würden. Das war damals im Grunde das Wichtigste. Das heisst, wenn man jetzt das “Programm” nimmt, das Buch von Theodor Herzl “Der Judenstaat”, dann ist es ein Staat, in dem die Mehrheit jüdisch ist, weil die Araber geflohen sind oder vertrieben wurden.
Die Araber in diesem Staat sind eine Minderheit, damals etwa zehn Prozent der jüdischen Gesellschaft im Staat Israel. Und die Hoffnung war, dass noch mehr Juden nach Israel kommen, so dass die Mehrheit sich in diesem Staat weiter etabliert und die Minderheit immer weniger an Bedeutung behält oder an Bedeutung gewinnt – die arabisch-palästinensische Minderheit.
So weit, so gut. Das heisst, “jüdisch” in Verbindung mit dem Begriff Israel hatte am Anfang eine klare nationale, säkulare Färbung. Das war die Erwartung, das war auch die Prognose, der Plan der Zionisten, die den Staat gegründet haben.
Wir alle wissen – und das ist kein Spoiler -, dass sich die israelische Gesellschaft in den letzten 70, 75 Jahren gewandelt hat. Die säkulare Grundlage für die nationale Selbstbestimmung, für die nationale Definition des Wortes “jüdisch” hat an Kraft verloren.
Die Religion ist immer mehr in die Definition eingedrungen und hat immer mehr das Adjektiv “jüdisch” in der Definition und im Verständnis von Israel als Staat bestimmt. Das ist eine Entwicklung, eine Evolution, die aber insgesamt, vor allem im Rückblick, eine revolutionäre Entwicklung geworden ist.
Das heisst, noch einmal: Am Anfang war die absolute Mehrheit säkular, verstand sich als nicht religiös, gründete ihr Judentum nicht auf der Religion, sondern auf der Nation. Was heute in Israel passiert, ist etwas Neues. Das heisst, es ist eine Veränderung, die radikaler nicht sein könnte.
Ich versuche nun zu erklären, in welchen Schritten sich diese radikale Entwicklung vollzogen hat und wie die Perspektiven für die israelische Gesellschaft im Jahr 2022 aussehen.
Der Staat Israel, die Gründer des Staates, die Gründerväter, waren so selbstbewusst, dass sie die Religion tatsächlich an den Rand gedrängt haben, dass sie bereit waren, Zugeständnisse an bestimmte Forderungen der religiösen Minderheit zu machen. Das zeugt nicht nur von Toleranz, sondern auch von Selbstbewusstsein. Hier hat es nicht geschadet, Zugeständnisse zu machen.
Zum Beispiel in der Diskussion um die Frage: Wie ist das Rückkehrgesetz, eines der ersten Gesetze, die verabschiedet wurden, zu verstehen? Die Idee, die Grundidee war: Juden wurden überall verfolgt, Juden sind eine Nation, Juden können als Nation ein Territorium, einen Staat machen. Juden dürfen als solche in diesen Staat einwandern. Aber man muss per Gesetz festlegen, wer wirklich Jude ist, um das Recht zu haben, in das Land Israel zurückzukehren.
Das ist verständlich, die “Rückkehr” ist eine Konstruktion, die nur möglich ist, wenn man glaubt, dass die Juden früher dort waren und jetzt wieder nach Palästina zurückkehren. Wenn man das behauptet – und das haben die Zionisten behauptet -, dann muss man auch ein entsprechendes Gesetz verabschieden: das Rückkehrgesetz.
Und in diesem Rückkehrgesetz steht, dass jeder Jude automatisch das Recht hat, nach Israel auszuwandern und Bürger dieses Staates zu werden. Das heisst, alle Juden im Ausland sind potentielle Bürger Israels. Da man hier praktisch denken musste und das nicht dem Zufall überlassen wollte, war Jude derjenige, der Sohn einer jüdischen Mutter war oder zum Judentum konvertiert war.
Hier beginnt das Paradox: Eine säkulare Gesellschaft schafft ein Grundgesetz, das praktisch ein Grundgesetz ist, in dem die Religion das Sagen hat. Das ist der “Feind” in Anführungszeichen, der schon da war. Die Geschichte seit 1948 ist eine Geschichte der Auseinandersetzung mit diesem groben Fehler, der von Anfang an Teil der Geschichte des Staates Israel war.
Aber es gab auch andere Zugeständnisse, andere Fehler. Der neue Staat ist säkular, liberal, tolerant. Wenn eine Gruppe verlangt, dass die Ruhetage oder der Ruhetag der öffentliche Ruhetag nach religiösen Regeln bestimmt wird, geht man davon aus, dass das akzeptabel ist. Das heisst, der Ruhetag ist nicht einfach der Samstag. Das war nicht Teil der Ideologie oder des Alltags des Zionismus vor der Staatsgründung.
Jetzt wurde der Sabbat, der Samstag, als Ruhetag genommen.
Aber in dem Moment, in dem der Sabbat zum Ruhetag erklärt wurde, entwickelte sich neben dieser Bestimmung auch eine Gesetzgebung, die es verbot oder erlaubte, bestimmte Dinge am Sabbat zu tun oder nicht zu tun. Das heisst, der Sabbat wurde mehr und mehr nach den Regeln der jüdischen Religion gehandhabt.
Er wurde nicht für die ganze Gesellschaft verordnet, aber der Sabbat war der Ruhetag, und am Sabbat als Ruhetag durfte man nicht arbeiten. Oder umgekehrt: Wer am Sabbat arbeiten wollte, brauchte eine besondere Erlaubnis. Das heisst, auch hier bestimmt die Religion und die Institution der jüdischen Religion, wie der Ruhetag gestaltet wird – nur ein Beispiel.
Und das zeigt, wie kompliziert das sein kann: Am Samstag wird normalerweise Fussball gespielt, das ist der Tag, an dem Fussball gespielt werden soll. Und da war von Anfang an, noch vor der Staatsgründung, die Frage: Kann der Staat das zulassen, dass die Liga, die israelische Liga, am Samstag spielt?
Aber weil die Mehrheit hier, die säkulare Mehrheit, so fanatisch fussballfreundlich war, haben sich die religiösen Gruppen nicht getraut, per Gesetz einzugreifen. Aber es zeigt, worum es gehen kann: Nicht nur um die grosse Frage, ob das Militär am Samstag trainieren darf – weil dann Ruhetag ist -, sondern auch um die profane Frage: Darf eine israelische Liga am Samstag spielen?
In dem Moment, wo das schon eine Frage ist, wo man sich damit auseinandersetzen muss, ist das Problem da: Inwieweit wird der Begriff “jüdisch” zu einem religiösen Begriff auf Kosten des säkularen, nationalen Begriffs.
Die andere Frage, die sich automatisch stellte, war die Frage des Kochens, des Essens. Man kann nicht alle zwingen, koscher zu essen. Aber man kann bestimmte Dinge gesetzlich verbieten, zum Beispiel den Verkauf von Schweinefleisch. Oder man kann in Hotels oder Restaurants verlangen, dass es eine Genehmigung gibt, dass hier nur koscher gegessen wird.
Schon vorher, bei der Frage, wie es mit der Küche in der israelischen Armee aussieht – das wäre eine offene Sache gewesen, man hätte alles essen können -, aber weil die religiösen Kräfte hier auf der Hut waren, hat man von vornherein festgelegt, dass das Essen zwar nicht koscher sein muss, aber der Verteidigungsminister muss das Essen dort koscher erlauben.
Da hat man schon religiöse Restriktionen eingeführt. Und wenn man damit anfängt, ist es immer eine offene Frage, wie weit man damit geht. Darüber wird auch heute noch gestritten.
Das ist natürlich auch eine Frage von Mehrheiten oder Minderheiten. Ich spreche immer davon, dass die religiöse Gruppe eine Minderheit ist, ich habe gesagt, etwa zehn Prozent. Aber im Laufe der Zeit ist diese Gruppe grösser geworden, und zwar aus zwei Gründen:
Der eine Grund war die Masseneinwanderung aus nicht-europäischen Ländern, wo die Juden religiöser waren als die säkularen Juden in Europa. Die Auswanderung nach Israel hat die Gesellschaft religiöser gemacht, empfänglicher für religiöse Regeln.
Zweitens hat die Politik eine Rolle gespielt. Die Politik hat dazu geführt, dass das Rabbinat, die religiöse Führung in Israel, sich als Staatsmacht etablieren konnte und überall, wo es möglich war, intervenieren konnte, um die religiöse Gesetzgebung im Alltag zu verankern.
Dann kam der Krieg von 1967, der Sechstagekrieg, der zur Annexion des Westjordanlandes durch Israel führte. Von da an gewannen religiöse Erwägungen und Anknüpfungspunkte in der israelischen Gesellschaft eine viel grössere Bedeutung.
Seit 1967, also seit der Eroberung dieser Gebiete, ist die Gesellschaft immer stärker von religiösen Ideen durchdrungen, obwohl sie immer noch eine säkulare Gesellschaft ist. Aber der religiöse Unterton ist immer stärker geworden.
Wenn man das alles zusammenzählt, führt das dazu, dass die israelische Gesellschaft – ohne dass hier eine Mehrheit religiös geworden wäre – sich immer mehr nach religiösen Massstäben definiert hat. Das heisst, wenn wir heute die Frage beantworten: “Wie jüdisch ist Israel?”, geben wir eine andere Antwort als 1948.
Seit 1967, seit der Masseneinwanderung nach Israel in den 1950er Jahren, lautet die Antwort: Die Gesellschaft hat sich weitgehend religionisiert. Das heisst, das Adjektiv “jüdisch” hat immer mehr eine religiöse Färbung bekommen. Die Grundlage der Existenz Israels, die Definition des Staates als “jüdisch”, hat sich radikal verschoben.
Hinzu kommt, dass das Rabbinat über ein Element des zivilen Lebens bestimmen konnte, das entscheidend ist: das Ehe- und Erbrecht. Es liegt nicht in der Hand des Staates, sondern in der Hand der religiösen Führung.
Es gibt die jüdische, die muslimische und die christliche Religionsgemeinschaft. Jede Gemeinde wird nach den Regeln ihrer Religion geführt. Wenn die Mehrheit jüdisch ist, bedeutet das, dass die Mehrheit in Israel von der Entscheidung des Oberrabbinats abhängig ist, wenn es um Erbrecht und alles, was damit zusammenhängt, geht.
Das ist ein Knackpunkt in der Gesellschaft: Es liegt nicht in den Händen der säkularen Gesetzgeber, sondern in den Händen des Rabbinats. Mit der Zeit ist das Rabbinat stärker geworden und konnte die Frage “Wie jüdisch ist dieser Staat?” auf seine Weise beantworten: “So jüdisch, wie wir es verstehen” – also nach den Regeln der jüdischen Orthodoxie.
In der israelischen Gesellschaft kommt eine weitere Komponente hinzu: Ich habe eingangs gesagt, dass etwa fünf Prozent der Juden in Israel nicht zionistisch, sondern antizionistisch sind. Diese Gruppe erfuhr im Laufe der Zeit, dass die Gesellschaft immer religiöser wurde. Das bedeutet, dass eine Annäherung zwischen dem religiösen Zionismus und dem religiösen Antizionismus stattfinden konnte.
Die nicht-zionistischen Juden konnten den Zionismus nach ihrem Geschmack neu definieren und so eine Annäherung zwischen den beiden religiösen Gruppen schaffen. Aus den beiden religiösen Gruppen wurde eine Gruppe – eine Art religiöser Juden, die den Zionismus neu definierten.
Diese Gruppe, die viel grösser war als die Gruppe, die am Anfang zionistisch und religiös war, konnte mehr und mehr den Alltag, die Gesetzgebung, die Politik bestimmen. In der Knesset, dem israelischen Parlament, sitzen religiöse Parteien oder Parteien, die religiöse Kräfte vertreten.
Am Anfang waren es etwa zehn Prozent, heute sind es etwa 25 Prozent. Auch die anderen, die säkularen Parteien haben ihren säkularen Charakter weitgehend aufgegeben. Wenn man heute Mitglieder der anderen, säkularen Parteien fragt: “Was bedeutet es für euch, Jude zu sein?”, dann steht nicht mehr die Nation oder die Selbstbestimmung der säkularen Juden im Vordergrund, sondern die religiöse Bestimmung, die religiöse Definition des Judentums – und zwar orthodox.
Das heisst, die Liberalen sind nicht nur eine kleine Gruppe, eine Minderheit – die Liberalen spielen in dieser Gesellschaft kaum eine Rolle. Auch die Gesellschaft, die sich säkular nennt oder sich als säkular definiert, ist in Umfragen bereits weitgehend religionisiert. Und für sie bedeutet “jüdisch sein” weitgehend, nach den Vorschriften des jüdischen Gesetzes, nach der Orthodoxie zu handeln.
Bisher haben wir eine Entwicklung beschrieben, die für diejenigen interessant sein mag, die sich mit der israelischen Gesellschaft beschäftigen. Sie ist aber auch von weitaus grösserer politischer Bedeutung. Denn diese Beschreibung, diese Entwicklung des Adjektivs “jüdisch” beschreibt quasi automatisch auch den Hintergrund des israelisch-palästinensischen Konflikts.
Dieser Konflikt war zunächst mehr als ein Konflikt zwischen einer jüdischen und einer palästinensischen Nation, die beide um nationale Selbstbestimmung kämpften. Auf der anderen Seite ging es für die Palästinenser auch um die Frage, inwieweit sich bei ihnen ein palästinensisches Nationalbewusstsein herausgebildet hatte.
Zwei Nationen – mit religiösem Background
Aber mit der Zeit wurde klar: Wir stehen uns als Nationen gegenüber, zwischen denen man einen Kompromiss oder Frieden finden kann. Seit 1967 nicht mehr, weil es immer mehr darum geht, dass auf der einen Seite die Angehörigen der jüdischen Religion stehen, auf der anderen Seite die Angehörigen der muslimischen Religion – die christliche Gruppe ist hier nur noch eine Randgruppe.
Das heisst, die ganze Entwicklung, die ich beschrieben habe, bedeutet, dass der Konflikt immer mehr zu einem religiösen Konflikt geworden ist. Wenn man das Heilige Land für die Gebiete jenseits der Grünen Linie beansprucht – wie es religiöse Gruppen oder jetzt auch die israelische Regierung tun -, dann haben wir eine neue Art von Konflikt, den man kaum lösen kann.
Die alten Vorstellungen, wie man den Konflikt lösen kann, sind mehr oder weniger überholt. Deshalb ist die Diskussion über die Zweistaatenlösung heute weitgehend theoretisch – nicht nur, weil schon so viele jüdische Siedler in der Westbank leben, sondern auch, weil sich die Vorstellung von “jüdisch” so verändert hat.
Die Mehrheit der israelischen Juden erwartet heute, dass das ganze Land, Palästina oder Israel, nach jüdischem Gesetz jüdisch ist. Und die anderen, die Angehörigen der anderen Religionen oder Nationen, werden als Minderheit in diesem Land nicht gleichberechtigt leben können.
Ein letzter Punkt, den ich ansprechen möchte und der für Europäer vielleicht am vordergründigsten ist: Antisemitismus und die Shoa. Man definiert “jüdisch” über die Religion – das ist das eine. Aber auch – und das ist eine Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg – auf der Grundlage der Erfahrung, des Traumas des Zweiten Weltkriegs, der Shoa.
“Jüdisch sein” bedeutet, verinnerlicht zu haben, dass Juden verfolgt wurden, dass Juden ermordet wurden und dass deshalb die einzige Alternative für Juden als Gesellschaft das Leben im Staat Israel ist.
Dieses Bewusstsein ist entscheidend für die Definition von “jüdisch” in Israel. Israel ist in gewisser Weise die Antwort auf Antisemitismus. Ohne Antisemitismus ist die Antwort “Israel” unvollständig. Wir kämpfen weiter gegen den Antisemitismus, wir erinnern uns an die Shoah, die wir als Ergebnis des Antisemitismus verstehen, und wir kämpfen gegen die nächste Shoah, die überall passieren kann.
Das bezieht sich nicht nur auf den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, sondern auch auf das Verhältnis zwischen der jüdischen Mehrheit in Israel und der arabischen Minderheit. Es gab sogar Versuche, den Palästinensern eine Mitschuld am Holocaust nachzuweisen. Das ist ein etwas bizarrer Ansatz, aber er hat einen wahren Kern, denn der Mufti von Jerusalem war ein Verbündeter Hitlers.
Aber es wird versucht, mit Hilfe der Shoa diese Spaltung zwischen Israelis und Palästinensern nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern noch zu vertiefen. Dies ist ein weiterer Schritt, um im Jahre 2022 mit Nostalgie auf 1948 zurückzublicken, als diese Bedeutung des Begriffs “jüdisch” entweder noch nicht existierte oder eine viel schwächere Bedeutung hatte.
Moshe Zimmermann ist ein renommierter israelischer Historiker, der vor allem für seine Arbeit zur deutsch-jüdischen Geschichte und zum modernen Deutschland bekannt ist. Geboren im Jahr 1943 in Jerusalem, wuchs Zimmermann in Israel auf und erhielt seine akademische Ausbildung an der Hebräischen Universität Jerusalem. Sein akademischer Fokus liegt insbesondere auf der Geschichte des Nationalsozialismus, dem Holocaust und den deutsch-israelischen Beziehungen.
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