
«Israel ist eine Gesellschaft, die ihre Humanität verloren hat»
Ein Jahr nach dem Hamas-Angriff
Vor einem Jahr schockierte der Terrorangriff der Hamas Israel zutiefst. Seitdem macht die Regierung von Benjamin Netanjahu Jagd auf Hamas und Hisbollah. Der bekannte israelische Journalist Gideon Levy übt im Interview mit der Berliner Zeitung scharfe Kritik an der israelischen Politik und Gesellschaft.
von Redaktion | 7. Oktober 2024
Der Angriff der Hamas auf israelische Ortschaften am 7. Oktober 2023 habe Israel grundlegend verändert, sagt Gideon Levy. «Seitdem glauben fast alle Israelis, dass Israel von nun an das Recht hat, zu tun, was es will.» Die einzige Antwort auf den Angriff der Hamas sei für die meisten «der uneingeschränkte Einsatz militärischer Gewalt». Das alles könne «in einer Katastrophe enden», warnt Levy, aber das wolle in Israel niemand hören.
«Wie russische Medien, die über die Ukraine berichten»
Die israelischen Medien hätten seit dem 7. Oktober ihre journalistische Arbeit eingestellt, so der Haaretz-Journalist: «Sie sind alle zu Propagandamedien geworden.» Über das Leiden der Palästinenser in Gaza werde seit einem Jahr «absolut nichts» berichtet. Die Medien verhielten sich «wie russische Medien, die über die Ukraine berichten», sagt Levy. Mit einem Unterschied: «In Russland haben die Medien keine Wahl, in Israel haben sie die Freiheit, zu informieren und zu berichten, was sie wollen.» Doch aus kommerziellen Gründen lieferten sie nur das, was das Publikum sehen wolle.
«Fast unmöglich, menschlich zu sein»
Israel sei «an einem Punkt angelangt, an dem es fast unmöglich ist, menschlich zu sein», konstatiert Levy. Wer Mitgefühl mit den Kindern in Gaza zeige, riskiere, von der Polizei verhört zu werden, seinen Job zu verlieren und vor Gericht zu kommen. Das seien Dinge, die in Israel gerade passierten. «Israel ist eine Gesellschaft, die ihre Humanität verloren hat», urteilt der Journalist. Der Schaden sei fast irreversibel. «Das alles ist nicht nur Netanjahus Schuld. Das ist der Zeitgeist in Israel.»
Israel als «Pariastaat» – Doppelmoral des Westens
International werde die Kritik am Vorgehen Israels immer lauter, doch Israel gelte für den Westen immer noch als «Liebling», sagt Levy. Für ihn ist das eine «Doppelmoral»: Nach Russlands Einmarsch in die Ukraine seien schnell Sanktionen verhängt worden. «Aber solche Maßnahmen gegen Israel zu ergreifen, daran denkt im Westen niemand.» Westliche Aufforderungen an Israel, den Krieg zu beenden, seien «heuchlerisch»: Die USA etwa riefen dazu auf und lieferten gleichzeitig «alle Waffen der Welt» nach Israel. «Die Amerikaner sind lächerlich, und die EU folgt ihnen, wie immer.»
Kritiker als «Antisemiten» diffamiert
Der Grund dafür sei, dass jeder, der es wage, Israel zu kritisieren, als Antisemit diffamiert werde, so Levy. Inzwischen gälten in den Augen Israels sogar der Internationale Strafgerichtshof oder die Uno als antisemitisch. «Das ist Wahnsinn.» Levy sieht vor allem, «dass Kritik an Israel zum Schweigen gebracht werden soll, indem sie als antisemitisch bezeichnet wird». Das sei eine Strategie der israelischen Propaganda, und es gebe kaum ein Land, in dem das so gut funktioniere wie in Deutschland. «Ich glaube, ihr Deutschen müsst euch fragen, ob ihr euch das gefallen lassen wollt, dass hier die Meinungsfreiheit einfach ausser Kraft gesetzt wird.»
Arroganz und Überheblichkeit
Wie es zum brutalen Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 kommen konnte, erklärt sich Levy mit der Verzweiflung der Palästinenser: «Seit Jahren ist Gaza ein Käfig. Was hat man erwartet? Dass sich die Menschen dort in Israel verlieben? Dass sie für immer dort sitzen würden, ohne Rechte, ohne Freiheit, ohne alles?» Dass der Angriff die israelischen Behörden dennoch überraschte, liege an der «israelischen Arroganz»: «In Israel denkt man: ‹Wir haben die Mauer. Wir haben die besten Geheimdienste der Welt. Wir haben die besten Waffen und so weiter. Uns kann nichts passieren.›»
Netanjahus Ideologie
Levy glaubt, dass Regierungschef Netanjahu den gegenwärtigen Krieg vor allem aus ideologischen Gründen führe. «Dieser Mann hat nie an Frieden mit den Palästinensern geglaubt, er hat nie an Diplomatie geglaubt. Und jetzt sieht er die Chance gekommen, das Problem ein für allemal mit Gewalt zu lösen.» Eine realistische Option sei das aber nicht, sondern «Überheblichkeit», so Levy.
«Auf keinen Fall»
Netanjahus Ziel sei es, die Hamas und die Hisbollah ganz zu vernichten, vielleicht auch den Iran. «Wird ihm das gelingen? Auf keinen Fall», sagt Levy. «Aber er glaubt, dass er eine Chance hat.» Er sehe Israel nun «am Rande eines regionalen Krieges stehen, von dem niemand weiss, wie er ausgehen wird». Netanjahu sei dafür verantwortlich, weil er nichts getan habe, um diesen Krieg zu verhindern. «Kriege haben die Probleme Israels noch nie gelöst, sondern immer nur verschärft.»
Gideon Levy (71) ist ein israelischer Journalist und Buchautor. Er ist Mitglied des Herausgeberkreises der israelischen Tageszeitung Haaretz, für die er auch eine wöchentliche Kolumne schreibt. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet. Er gilt als einer der bekanntesten Journalisten seines Landes.