
Die Ideologisierung der Vulnerabilität
«Vulnerable» vor Kritik schützen?
Dieser Artikel verteidigt den Wert und die Unverzichtbarkeit der freien Debatte gegen neuere Tendenzen, gewisse kontroverse Beiträge zur öffentlichen Diskussion als Schädigungen vulnerabler Menschen zu delegitimieren.
von Maria-Sibylla Lotter | 11. Juli 2023
Dieser Text von Maria-Sibylla Lotter, Bochum, erschien zuerst in der Zeitschrift für Praktische Philosophie
1 In Deutschland dreht sich die Diskussion um „Meinungsfreiheit“, nicht um „Redefreiheit“; der Begriff ist enger als „free speech“, was aber für die hier behandelten Fragen nicht von Belang ist, da es ohnehin eher um das geht, was der griechische Ausdruck Parrhesia bezeichnet: die gefühlte Freiheit, ohne Angst und Scham öffentlich über alles sprechen zu können.
2 Vgl. den Beitrag von Jochen Breyer, „Wie steht’s um die Meinungsfreiheit in Deutschland“, zoom – Am Puls Deutschlands (ZDF), vom 21. 4. 2021 (https:// www.youtube.com/watch?v=se2edQHPI6c).
3 Vgl. hierzu die Beiträge in dem von Patsy L’Amour LaLove (2017) herausge gebenen Band Beissreflexe: Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten, Berlin (Queer-Verlag).
4 Vgl. „Die Mehrheit fühlt sich gegängelt“, Dokumentation des Beitrags von Dr. Thomas Petersen in der FAZ vom 16. 6. 2021 (https://www.ifd-allensbach. de/fileadmin/kurzberichte_dokumentationen/FAZ_Juni2021_Meinungsfreiheit.pdf).
5 Dies lässt eine andere kürzlich auf einer breiteren Datenbasis erstellte Umfrage von Richard Traunmüller vermuten, vgl. Jan Menzner und Richard Traunmüller (2022), „Subjective Freedom of Speech: Why Do Citizens Think They Cannot Speak Freely?“, Politische Vierteiljahresschrift August 2022, S. 1–27.
6 Vgl. Schubert, Karsten (2020), „Political Correctness als Privilegienkritik“ (https://literaturwissenschaft-berlin.de/political-correctness-als-privilegienkritik/). Schon Herbert Marcuse hatte 1965 in seiner Kritik der reinen Toleranz argumentiert, dass die Tolerierung aller Meinungsäusserungen nur unter der Bedingung absoluter Gleichheit eine Gesellschaft fördert. Er vertrat die Auffassung, dass Toleranz bei einem Machtgefälle zwischen Gruppen nur die bereits Mächtigen stärkt und es ihnen erleichtert, Institutionen wie das Bildungswesen, die Medien und die meisten Kommunikationskanäle zu beherrschen. Eine Toleranz, die alle gleichbehandelt, sei daher im Ergebnis „repressiv“: Sie blockiere die politische Agenda und unterdrücke die Stimmen der weniger Mächtigen. Daher sei es gerechtfertigt, die Redefreiheit der Privilegierten einzuschränken, um die Redefreiheit der Nichtprivilegierten zu gewährleisten. Vgl. Herbert Marcuse (1968), „Repressive Toleranz“, Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt (Suhrkamp), S. 93, 97.
7 Vgl. Ishani Maitra (2012), „Subordinating Speech“, Speech & Harm. Controversies over Free Speech, hg. v. Ishani Maitra & Kate McGowan, Oxford University Press, 94–120.
8 Dass ich hier nicht den unbedingten Wert der Redefreiheit diskutiere, sondern mich auf ihren instrumentellen Wert für die Legitimität und Funktionsfähigkeit einer Demokratie beschränke, ist nicht als Kritik an der Annahme zu verstehen, die Redefreiheit sei ein natürliches Recht des Menschen, sich frei im sozialen Raum zu entfalten, und sie habe für die einzelne Person einen unbedingten Wert, da sie nur in der freien Rede für sich selbst und andere als Individuum in Erscheinung treten kann. Zur Entfaltung des Individuums durch seine öffentliche Erscheinung vgl. Hannah Arendt (1984), Vita Activa, München (Piper) S. 221.
9 Vgl. Ronald Dworkin (2006), „A New Map of Censorship“, Sage Journals, Vol. 35/1, 130–133 (https://journals.sagepub.com/doi/10.1080/030642205 00532412).
10 Hier folge ich Robert Post (2012), „Interview with Robert Post“, The Content and Context of Hate Speech: Rethinking Regulation and Responses, hg. v. Michael Herz und Péter Molnár, Cambridge University Press, S. 11–36.
11 Christian Lewke (2018), „Zur Historie und Zukunft der Redefreiheit. Zur Historie und Zukunft der Redefreiheit. Der dauernde Kampf um ein bewegtes Gut“, Menschen Rechts Magazin Informationen | Meinungen | Analysen, 23/1, S. 48.
12 John Stuart Mill (2009), Über die Freiheit, Hamburg (Meiner), S. 25.
13 Mill (2009), S. 26.
14 Vgl. Mill (2009), S. 56.
15 Vgl. hierzu auch Marie-Luisa Frick (2020), „Streitkompetenz als demokratische Qualität. Oder: Vom Wert des Widerspruchs“, Aus Politik und Zeitgeschichte (Heft: Freie Rede), 12–13/2020, S. 31.
16 Vgl. Hannah Arendt (2003), „Thinking and Moral Considerations“, Responsibility and Judgment, New York (Shocken Books), S. 160.
17 Vgl. hierzu Cass Sunstein (2009), Infotopia. Wie viele Köpfe Wissen produzieren, Frankfurt (Suhrkamp), Kap. 2 und 3.
18 Diese Bereitschaft ist nicht mit der sehr anspruchsvollen philosophischen Verpflichtung zu verwechseln, „die Wahrheit und Rationalität in den Äusserungen des Anderen zu maximieren“, vgl. Simon Blackburn (1994), The Oxford Dictionary of Philosophy, Oxford University Press, S. 62. Ausserhalb der von speziellen Regeln geleiteten wissenschaftlichen Diskussion kann niemand erwarten, dass die eigenen Äusserungen stets mit maximalem Wohlwollen interpretiert werden.
19 Vgl. Mill (2009), S. 77.
20 Vgl. Timothy Garton Ash (2016), Free Speech. Ten Principles for a Connected World, London (Atlantic Books), S. 85.
21 Vgl. Ash (2016), S. 79.
22 Vgl. Mill (2009), S. 79.
23 Joel Feinberg (1984), Harm to Others. The Moral Limits of the Criminal Law, Oxford University Press, S. 35–36.
24 Mari J. Matsuda (1993), „Introduction“, Words That Wound: Critical Race Theory, Assaultive Speech, and the First Amendment, Boulder (Westview Press), S. 6.
25 Vgl. Jeremy Waldron (2012), The Harm in Hate Speech, Harvard University Press, S. 34.
26 Als aggressiv werden entsprechend auch Äusserungen klassifiziert, die nicht beleidigend gemeint sind, denen aber eine negative Implikation zugeschrieben wird. Dieses Konzept wurde von dem einflussreichen Psychologen Derald Wing Sue in die breitere Diskussion eingeführt. Vgl. „Racial Microaggressions in Everyday Life. Implications for Clinical Practice“, American Psychologist, Vol. 62/4, 271–286.
27 Jonathan Haidt und Greg Lukianoff (2018), The Coddling of the American Mind. How Good Intentions and Bad Ideas are Setting Up a Generation for Failure, USA (Penguin).
28 Zur Dehnung und Bedeutungsverschiebung von Begriffen, die sich auf Verletzungen beziehen, vgl. Nick Haslam (2016), „Concept Creep: Psychology`s expanding Concepts of Harm and Pathology“, Psychological Inquiry, 27/1, 1–17.
29 Hier folge ich Saira Mohamed (2015), Of Monsters and Men: Perpetrator Trauma and Mass Atrocity, Columbia Law Review, Vol. 115/5 (June), 1157– 1216.
30 Vgl. Mohamed (2015), S. 1173.
31 Vgl. hierzu Lisa Feldmann Barrett (2017), „When is Speech Violence?“ New York Times, 14. 7. 2017 (https://www.nytimes.com/2017/07/14/opinion/sunday/when-is-speech-violence.html).
32 Sama Maani (2017), „Mit dem Begriff Islamophobie gehen wir den Rassisten auf den Leim“, Beissreflexe: Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten, hg. v. Patsy L’Amour LaLove, Berlin (Queer-Verlag), 204–211.
33 Zu Stock vgl. Kathleen Stock (2021), Material Girls: Why Reality Matters for Feminism, Wolverhampton (Fleet Publishing).
34 Die Verantwortlichen waren genötigt, später ein Erratum hinzuzufügen; „the original version of this letter incorrectly stated that Stock opposes the UK’s Gender Recognition Act. This was an error“. Die in dem Brief auf Grund dieses „Irrtums“ erhobenen eher wilden Anschuldigungen wurden jedoch nicht modifiziert.
35 Vgl. ihren „Open Letter Concerning Transphobia in Philosophy“ (https:// sites.google.com/view/trans-phil-letter/).
36 Nikolas Hartmann (1949), Ethik, Berlin (De Gruyter), S. 276.
37 Vgl. hierzu John McWhorter (2022), „The New N-Word Standard Isn’t Progress“, New York Times, 11. 2. 2022 (https://archive.ph/DD8PB).
38 Die Tabuisierung von rassistischen Worten setzt zudem mit Blick auf die vermeintlich zu Schützenden ein Signal, das der antirassistischen Absicht zuwiderläuft, insofern ihnen implizit die menschliche Fähigkeit abgesprochen wird, Worte im Kontext zu verstehen, wie John McWhorter moniert: It „is a strange kind of antiracism that requires all of us to make believe that Black people cannot understand the simple distinction between an epithet and a citation of one.“ Vgl. McWhorter (2022).
39 Vgl. Judith Butler (1997), Excitable Speech. A Politics of the Performative, London (Routledge), S. 4.
40 Butler (1997), S. 38.