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Varoufakis prangert Gewalt gegen Palästinenser an
Varoufakis: Israels Politik ist «Völkermord»
Der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis hat mit einer emotionalen Rede zum Konflikt zwischen Israel und Palästina für Aufsehen gesorgt. Er bezeichnet die Gewalt Israels gegen die Palästinenser als «Völkermord» und wirft westlichen Regierungen vor, dieser Gewalt tatenlos zuzusehen. Varoufakis zieht Parallelen zur Kolonialpolitik europäischer Mächte und wendet sich entschieden gegen eine Rechtfertigung der Gewalt mit Verweis auf die Hamas. Der Ökonom warnt davor, durch das Dulden der Gewalt jede Möglichkeit einer Zweistaatenlösung zu zerstören. Er ruft zu einem sofortigen Waffenstillstand sowie der Anerkennung eines palästinensischen Staates auf und prangert die Passivität der Machthaber an. Varoufakis appelliert an die Zivilgesellschaft, sich dem Unrecht entgegenzustellen.
von Yanis Varoufakis | 1. Dezember 2023
«Im Gazastreifen ereignet sich gegenwärtig ein Völkermord, der mit Israels opportunistischer ethnischer Säuberung der Palästinenser in Ostjerusalem und im Westjordanland einhergeht. Wir stehen hier vor einem Prüfstein unserer Menschlichkeit, denn künftige Generationen werden uns die Verantwortung für den Tod von mehr als 100.000 Menschen, vor allem Frauen und Kindern, vorwerfen.
Die Frage, die uns unsere Enkel stellen werden, lautet: Wo wart ihr 2023 während des Massenmords an den Palästinensern? Wir wissen es, unsere Regierungen wissen es, jeder weiß es. Denn die israelische Regierung verkündet stolz ihre völkermörderischen Absichten.
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, wer der Feind des Humanismus ist. Es ist nicht das Volk von Israel, denn auch sie leiden. Es sind nicht die Juden außerhalb Israels. Genauso wenig wie die Grausamkeiten des britischen Empires gegen die Bevölkerung Kenias, Indiens und anderer Kolonien der Mehrheit der Briten angelastet werden können, die ebenfalls Opfer von Enteignung, Erniedrigung und Ausbeutung durch dieselben britischen Behörden waren.
Solange sich ein einziger Jude durch Antisemitismus und Antisemiten bedroht fühlt, werde ich den Davidstern tragen. Solange auch nur ein einziger Palästinenser terrorisiert, seines Wassers beraubt, bombardiert, verstümmelt oder getötet wird, werde ich die palästinensische Flagge als Symbol der Solidarität mit den Menschen tragen.
Hier eine Frage an die Wohlmeinenden, die glauben, dass die jahrhundertelangen Pogrome gegen das jüdische Volk, die in dem einzigartig schrecklichen Holocaust gipfelten, uns dazu verpflichten, den Staat Israel zu verteidigen, komme was wolle: Wie weit muss Israels ethnische Säuberung der Palästinenser gehen, bevor unsere völlig berechtigte kollektive Schuld im Holocaust uns nicht mehr daran hindert, der ethnischen Säuberung der Palästinenser durch Israel entgegenzutreten?
Glaubt jemand, dass unsere berechtigte Kollektivschuld am Holocaust mit palästinensischem Blut reingewaschen werden kann? Ich glaube das nicht.
Nun eine Botschaft an diejenigen, die glauben, dass die Gräueltaten der Hamas alle und jede der Gräueltaten am palästinensischen Volk mit der vollen und bedingungslosen Unterstützung des Westens rechtfertigen: Haben wir nicht die Lehren aus der jüngsten Geschichte gezogen?
Die unbestrittene Tatsache, dass Saddam, Gaddafi und die Taliban blutrünstige Tyrannen waren, lieferte einen furchtbaren Grund, in Libyen, im Irak und in Afghanistan einzumarschieren und das Volk in Schutt und Asche zu legen.
Bedenken Sie auch, was wäre, wenn es die Hamas nie gegeben hätte? Was würde jetzt in Gaza und anderswo passieren? Es ist nicht nötig, darüber zu spekulieren oder es sich vorzustellen – schauen Sie sich nur das Westjordanland und Ostjerusalem an, wo die Hamas kaum existiert und die Palästinensische Autonomiebehörde ihre Waffen niedergelegt hat und mit Israel kooperiert. Was wir sehen, sind Massenmorde, Vertreibungen, kollektive Erniedrigungen, Apartheidmethoden und natürlich die ethnische Säuberung aller Palästinenser im Westjordanland und in Ostjerusalem.
Sich auf die Gräueltaten der Hamas zu konzentrieren, ist eindeutig ein billiger Versuch, die wahren Gründe für diesen einseitigen, nicht enden wollenden Krieg gegen das palästinensische Volk zu ignorieren.
In der Zwischenzeit werden unsere etablierten Parteien, die Regierung und die wichtigste Oppositionspartei Ihnen umgehend erklären, dass ihre Hauptidee zur Lösung dieses Konflikts die Zweistaatenlösung ist. Das ist eine Lüge. Sie wissen ganz genau, dass Netanjahus Lebenstraum und Projekt die Zerstörung jeder Möglichkeit einer Zweistaatenlösung war – ein Ziel, das die Europäische Union, Großbritannien, die Vereinigten Staaten und der Westen im Allgemeinen Netanyahu ermöglicht haben.
Auf diese Weise zerstören Netanyahu und die religiösen Fundamentalisten in seinem Regierungsblock jede Möglichkeit einer Zweistaatenlösung und machen die Glaubwürdigkeit der westlichen Regierungen zunichte.
Deshalb sind wir hier, weil unsere Machthaber eine eindeutige und gegenwärtige Gefahr für den Weltfrieden darstellen.
Was sollte jetzt geschehen? Zunächst einmal vier Dinge:
- Ein sofortiger Waffenstillstand.
- Die Freilassung aller Geiseln der Hamas und aller Geiseln, die Israel zu Tausenden in israelischen Gefängnissen festhält.
- Die sofortige, symbolische, aber entscheidende Anerkennung eines palästinensischen Staates auf dem seit 1967 besetzten Gebiet. Und
- ein echter Friedensprozess im Rahmen der Vereinten Nationen, der gleiche politische und bürgerliche Rechte für alle Menschen vom Fluss bis zum Meer gewährleistet – das Ende der Apartheid und der Beginn einer neuen friedlichen Ära.
Unsere Machthaber werden sich für nichts davon einsetzen. Aus diesem Grund sind wir hier. Denn wenn die Herrschenden in der Geschichte versagen, muss das Volk die Geschichte schreiben.»