
Frei in einer Welt unfreiwilliger Freiheiten und verbotener Verbote
Vom Zwang, frei zu sein
Was meinen wir eigentlich, wenn wir von Freiheit sprechen? Dieser Frage geht der slowenische Philosoph Slavoj Žižek in einem Beitrag für die linke US-amerikanische Zeitschrift Jacobin nach. Anhand einer persönlichen Anekdote über seinen Sohn zeigt Žižek, wie Freiheit missverstanden und missbraucht werden kann. Er zieht Parallelen zur politischen Situation, in der sich Rechtspopulisten zwar formal an demokratische Regeln halten, deren Geist aber untergraben.
von Redaktion | 27. August 2023
Er beginnt mit einer aufschlussreichen persönlichen Anekdote aus dem Familienalltag: Als Žižek seinen Sohn fragt, ob er ihm das Salz reichen könne, nimmt dieser die Frage wörtlich und bleibt untätig, obwohl die eigentliche Intention offensichtlich ist. Für Žižek ist dies ein anschauliches Beispiel dafür, wie das dogmatische Festhalten an der formalen Bedeutung von Wörtern die Kommunikation und das gegenseitige Verständnis behindern kann. Er zieht Parallelen zur politischen Sphäre, wo etwa Rechtspopulisten wie Donald Trump zwar formal die demokratischen Spielregeln einhalten, aber deren Geist und Intention missachten und untergraben.
Eine funktionierende Demokratie setzt laut Žižek voraus, dass alle relevanten politischen Akteure gewissermassen dieselbe Sprache sprechen und demokratische Grundprinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Minderheitenschutz ähnlich interpretieren und bejahen. Andernfalls drohe eine Aushöhlung des demokratischen Systems von innen.
Žižek argumentiert weiter überzeugend, dass der scheinbar eindeutige Begriff «Freiheit» bei näherer Betrachtung unterschiedliche Bedeutungen und Konnotationen haben kann. Zur Veranschaulichung verweist er auf die englischen Wörter «freedom» und «liberty»: Während «freedom» schlicht die Abwesenheit äusserer Beschränkungen meint, impliziert «liberty» die verantwortungsvolle und sozialverträgliche Ausübung von Freiheit unter Beachtung der Rechte anderer.
Nach Žižeks Analyse ist Freiheit grundsätzlich immer in einen konkreten sozialen Kontext eingebettet, der durch Regeln und Normen strukturiert und begrenzt wird. Ohne gemeinsame Spielregeln sei das friedliche Zusammenleben einer Gemeinschaft und damit wirkliche Freiheit nicht denkbar. Dennoch brauche es auch die Möglichkeit, etablierte Regeln und Strukturen in Frage zu stellen und im Diskurs weiterzuentwickeln.
Žižek zeigt eindrucksvoll, wie in jeder Kultur und Gesellschaft bestimmte Themen und Verhaltensweisen tabuisiert und aus dem öffentlichen Diskurs verbannt werden. Er bezeichnet dies als das «Obszöne». Machthaber gingen manchmal so weit, dass sie selbst das Aussprechen bestimmter Verbote verbieten. Žižek spricht hier von einem «Verbot der Verbote» und zieht Parallelen zu Kafkas beklemmenden Schilderungen einer Welt unbekannter, willkürlicher Gesetze.
Nach Žižeks Analyse betreiben Machtsysteme heute vor allem Selbstzensur, um die Effizienz und Stringenz des eigenen Diskurses zu erhöhen. Vermeintlich subversive Äusserungen von Aussenseitern und Andersdenkenden werden rigoros unterbunden, während gleichzeitig die Widersprüche und Tabus der eigenen Ideologie zensiert und verdrängt werden. Als Beispiel nennt Žižek die rigorose Tabuisierung von Homosexualität in der machohaften soldatischen Kultur der Armee.
Insgesamt plädiert Žižek für eine kritische «Ideologiekritik», die solche Tabus, Lücken und Verzerrungen in den Selbstbildern von Gesellschaften aufdeckt. Philosophie versteht er gewissermassen als produktive Geisteskrankheit, als dysfunktionales Hinterfragen, das hilft, versteckte Denkwidersprüche aufzudecken. Auch mächtige Begriffe wie «Freiheit» müssten immer wieder neu verhandelt und kontextualisiert werden, da sich ihre Bedeutung im Laufe der Geschichte verändere.
So könne in Krisenzeiten wie Kriegen die «abstrakte Freiheit» auch einmal geltende Regeln brechen, um die konkreten Freiheiten der Menschen zu verteidigen. Vor diesem Hintergrund betrachtet Žižek beispielsweise auch den Sturm auf das Kapitol durch Trump-Anhänger mit einer gewissen Ambivalenz.
Gleichzeitig warnt Žižek abschliessend davor, dass der Ruf nach Freiheit und der Widerstand gegen das Establishment zunehmend von rechtspopulistischen Bewegungen vereinnahmt und in gefährliche Bahnen gelenkt werden könnte. Für die Linke sieht er daher die Herausforderung, legitime Formen des Widerstands und des Freiheitskampfes zu finden, ohne die formalen Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit völlig über Bord zu werfen.
Insgesamt bietet Žižeks Beitrag vielschichtige und anregende Überlegungen dazu, was Freiheit in der heutigen Gesellschaft bedeuten kann und wie ein emanzipatorischer Freiheitsbegriff in Zukunft neu bestimmt werden kann. Seine Überlegungen laden zum kritischen Nachdenken ein und liefern wertvolle philosophische Grundlagen für die politische Debatte.
Quelle: Jacobin