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Warum die Ukraine wohl dauerhaft Gebiete an Russland verlieren wird
«TIME»: Die Ukraine kann nicht gewinnen
Die Ukraine werde die von Russland besetzten Gebiete wohl für immer verlieren, meint Anatol Lieven in «Time». Weder die ukrainischen Streitkräfte noch westliche Waffenlieferungen würden ausreichen, um die Russen zurückzudrängen. Obwohl ein Friedensabkommen mit Gebietsverzicht emotional schmerzhaft sei, bleibe es aber die bessere Alternative zu einer langfristigen Niederlage der Ukraine. Die Biden-Administration setzt derweil auf Zeitgewinn bis zu den US-Wahlen - ein riskantes Spiel mit ungewissem Ausgang.
von Anatol Lieven | 27. Februar 2024
Die lang erwartete Gegenoffensive im vergangenen Jahr ist gescheitert. Russland eroberte Awdijiwka zurück, seinen größten Kriegsgewinn seit neun Monaten. Präsident Wolodymyr Zelenskij sah sich gezwungen, die neue militärische Realität stillschweigend anzuerkennen. Die Strategie der Biden-Administration besteht nun darin, die ukrainische Verteidigung bis nach den US-Präsidentschaftswahlen aufrechtzuerhalten, in der Hoffnung, die russischen Streitkräfte in einem langen Abnutzungskrieg zu zermürben.
Diese Strategie scheint vernünftig zu sein, hat aber eine entscheidende Konsequenz und einen potenziell katastrophalen Fehler, der weder in der öffentlichen Debatte im Westen noch in der Ukraine ernsthaft diskutiert wird. Wenn die Ukraine auf unabsehbare Zeit in der Defensive bleibt – und sei es erfolgreich -, dann sind die von Russland besetzten Gebiete verloren. Russland wird niemals bereit sein, am Verhandlungstisch Gebiete aufzugeben, die es auf dem Schlachtfeld halten konnte.
Das bedeutet nicht, dass die Ukraine aufgefordert werden sollte, diese Gebiete formell aufzugeben, denn das wäre für jede ukrainische Regierung unmöglich. Aber es bedeutet, dass – wie Zelensky zu Beginn des Krieges in Bezug auf die Krim und den östlichen Donbass vorschlug – die territoriale Frage für künftige Gespräche zurückgestellt werden muss.
Wie wir von Zypern wissen, das seit 1974 zwischen der international anerkannten Griechischen Republik Zypern und der Türkischen Republik Nordzypern geteilt ist, können solche Verhandlungen Jahrzehnte dauern, ohne zu einer Lösung oder einem neuen Konflikt zu führen. Eine Situation, in der die Ukraine ihre Unabhängigkeit, ihre Freiheit, sich als westliche Demokratie zu entwickeln, und 82 Prozent ihres rechtmäßigen Territoriums (einschließlich aller historischen Kerngebiete) behält, wäre von früheren Generationen von Ukrainern als echter Sieg betrachtet worden, wenn auch nicht als vollständiger Sieg.
Wie ich letztes Jahr in der Ukraine feststellen konnte, waren viele Ukrainer bereit, den Verlust einiger Gebiete als Preis für den Frieden zu akzeptieren, wenn die Ukraine sie nicht auf dem Schlachtfeld zurückerobern konnte und die Alternative ein jahrelanger blutiger Krieg mit wenig Aussicht auf Erfolg gewesen wäre. Die Biden-Administration muss auch Amerika ins Boot holen.
Doch die Hoffnungen der Befürworter eines vollständigen ukrainischen Sieges reichen von übertrieben optimistisch bis magisch. Am magischen Ende des Spektrums steht die unter anderem vom pensionierten US-Armeegeneral Ben Hodges vertretene Vorstellung, Russland könne durch den Beschuss mit Langstreckenraketen besiegt und sogar von der Krim vertrieben werden.
Das ist töricht. Die Ukrainer haben zwar einige bemerkenswerte Erfolge gegen die russische Schwarzmeerflotte erzielt, aber um die Krim zurückzuerobern, müssten sie in der Lage sein, eine massive amphibische Landung durchzuführen – eine extrem schwierige Operation, die ihre Möglichkeiten an Schiffen und Männern bei weitem übersteigt. Angriffe auf die russische Infrastruktur sind angesichts der Größe und der Ressourcen Russlands nur Nadelstiche.
Realistischer ist die Annahme, dass die Ukrainer, wenn sie in diesem Jahr in der Defensive bleiben, den Russen so große Verluste zufügen können, dass sie, wenn sie mehr westliche Waffen erhalten, 2025 einen erfolgreichen Gegenangriff starten können. Das hängt allerdings davon ab, ob die Russen das Spiel so spielen, wie Kiew und Washington es wollen.
Die aktuelle russische Strategie sieht anders aus. Sie haben die Ukrainer in langwierige Kämpfe um kleine Gebiete wie Awdijiwka verwickelt, wo sie sich auf die russische Überlegenheit bei Artillerie und Munition verlassen, um sie durch Dauerbeschuss zu zermürben. Auf einen Ukrainer kommen drei Granaten, und auch dank iranischer Hilfe ist Russland inzwischen in der Lage, eine große Zahl von Drohnen einzusetzen.
Um eine Chance zu haben, bräuchten die Ukrainer, wie die Militärgeschichte zeigt, einen Mannschaftsvorteil von 3:2 und deutlich mehr Feuerkraft. Diese Vorteile hatte die Ukraine im ersten Jahr des Krieges, aber jetzt hat Russland sie, und es ist sehr schwer zu sehen, wie die Ukraine sie zurückgewinnen kann.
Die Biden-Administration warnt zu Recht, dass der ukrainische Widerstand ohne weitere massive US-Militärhilfe in diesem Jahr wahrscheinlich zusammenbrechen wird. Aber die US-Verantwortlichen müssen auch erkennen, dass es selbst bei Fortsetzung dieser Hilfe keine realistische Chance auf einen vollständigen ukrainischen Sieg im nächsten oder übernächsten Jahr gibt. Selbst wenn es den Ukrainern gelingen sollte, ihre Streitkräfte aufzustocken, könnte Russland seine Verteidigung weiter ausbauen.
Die Biden-Administration hat ein starkes Interesse daran, Präsident Wladimir Putin auf die Probe zu stellen, indem sie prüft, ob seine Erklärungen, Russland sei zu Friedensgesprächen bereit, ernst gemeint sind. Ein erfolgreicher Friedensprozess würde zweifellos einige schmerzhafte Zugeständnisse seitens der Ukraine und des Westens erfordern. Die Schmerzen wären jedoch eher emotionaler als praktischer Natur, und eine Friedensregelung würde voraussetzen, dass Putin den Plan aufgibt, mit dem er den Krieg begonnen hat, nämlich die gesamte Ukraine in einen russischen Vasallenstaat zu verwandeln, und dass er die territoriale Integrität der Ukraine in ihren heutigen faktischen Grenzen anerkennt.
Denn die verlorenen ukrainischen Gebiete sind verloren, und die NATO-Mitgliedschaft ist sinnlos, wenn das Bündnis nicht bereit ist, eigene Truppen zu entsenden, um für die Ukraine gegen Russland zu kämpfen. Vor allem aber: So schmerzhaft ein Friedensabkommen heute wäre, so unendlich schmerzhafter wird es sein, wenn der Krieg weitergeht und die Ukraine besiegt wird.
Anatol Lieven leitet das Eurasien-Programm am «Quincy Institute for Responsible Statecraft» und ist Mitverfasser des Buches «The Diplomatic Path to a Secure Ukraine», das Ende Februar 2024 veröffentlicht werden soll.