
Die Entmenschlichung der Kriegsethik in Israel
Mit Seuchen gegen Palästinenser
Giora Eiland, ein ehemaliger hochrangiger israelischer Offizier, hat vorgeschlagen, Seuchen gegen die Palästinenser einzusetzen, um Israels Sieg im Gaza-Krieg zu sichern. Gideon Levy, Mitherausgeber der israelischen Zeitung «Haaretz», zeigt, wie diese ungeheuerliche Idee symptomatisch für eine tiefe moralische Krise der israelischen Gesellschaft und ihres Umgangs mit dem Konflikt ist.
von Redaktion | 27. November 2023
Gideon Levy schreibt, Giora Eiland gehöre zu den «denkenden Offizieren», die aus der israelischen Armee hervorgegangen seien. Er beschreibt ihn als «angenehm und eloquent», mit einem Auftreten voller «Mässigung und gesundem Menschenverstand». Eiland habe eine beeindruckende Militärkarriere hinter sich, sei Leiter der Operations- und Planungsabteilung der Armee und Chef des Nationalen Sicherheitsrates gewesen. Er wurde ständig interviewt und von der Arbeiterbewegung gefeiert. Im Gegensatz zu anderen Offizieren wie Amir Avivi und Itamar Ben Gvir sei Eiland «nicht so ungeschickt und ignorant» und «nicht so blutrünstig». Insgesamt ordnet Levy Eiland politisch eher der gemässigten Rechten zu.

Levy führt weiter aus, dass Eiland in einem Artikel in der Zeitung Yedioth Ahronoth die Ansicht vertreten habe, dass «Epidemien in Gaza […] gut für Israel» seien. Eiland habe geschrieben: «Schwere Epidemien im Süden des Gazastreifens werden schliesslich den Sieg näher bringen und die Zahl der getöteten IDF-Soldaten reduzieren.» Laut Levy meinte Eiland damit, man müsse “nur darauf warten, dass die Töchter der Hamas-Führer die Pest bekommen”, dann “haben wir gewonnen”. Levy interpretiert diese Äusserung als Empfehlung Eilands, gezielt Seuchen wie Pest, Geschwüre oder Cholera unter der Bevölkerung Gazas zu verbreiten, «vielleicht einen Cocktail aus Pocken und Aids; vielleicht auch Hungersnot für zwei Millionen Menschen».
«Eiland, in der Rolle von Mutter Teresa, Offizier und Gentleman der moralischsten Armee der Welt, machte einen Nazi-Vorschlag und kein Sturm der Entrüstung brach aus». Wenn man Israel des Völkermords bezichtige, werde man sofort als «Antisemit» verurteilt, aber Eilands Äusserungen würden toleriert. Levy meint, man solle sich vorstellen, «ein europäischer General […] würde vorschlagen, eine Nation auszuhungern oder durch eine Seuche zu töten – die Juden zum Beispiel» oder «[…] eine Seuche zu verbreiten, weil es der Kriegsführung dienlich wäre». Heute aber, so Levy, gelte «im Krieg […] alles als erlaubt», und «man kann jetzt alles vorschlagen, wovon man je geträumt hat, was man aber nie zu sagen gewagt hat». Die politische Korrektheit sei damit auf den Kopf gestellt – «jeder kann Meir Kahane sein (ein extremistischer orthodoxer Rabbiner in New York, der für die Vertreibung der Nichtjuden auch aus den besetzten Gebieten und für eine jüdische Theokratie plädierte), niemand darf menschlich sein». Es sei heute «okay, Völkermord vorzuschlagen», aber «falsch […], die Kinder von Gaza zu bedauern».Ebenso sei es «okay, ethnische Säuberungen vorzuschlagen», aber falsch, über die «Bestrafung Gazas» schockiert zu sein.
Levy zeigt sich besorgt, dass Ansichten wie die von Eiland nicht mehr nur von der Rechten, sondern auch vom Mainstream in Israel vertreten würden. Als Beispiele nennt er den Abgeordneten Ram Ben Barak von der Partei Jesch Atid, der die «freiwillige Umsiedlung» unterstützt, und die gemässigte Ministerin Gila Gamliel, die sich ebenfalls dafür ausspricht. Das Monströse sei also richtig und das Dämonische habe sogar «das Zentrum und […] das linksliberale Lager durchdrungen». Levy: “Noch ein oder zwei Kriege, und alle sind Kahane”.
Die israelische Gesellschaft habe sich noch nicht von der Brutalität der Hamas erholt, meint Gideon Levy zynisch, da «werden wir schon mit all dieser Güte überschüttet – nicht nur von der extremen Rechten und den Siedlern, sondern auch aus dem Herzen der israelischen Mitte». Für Levy gibt es in dieser Gesellschaft nur noch «grausame Grausamkeit und korrekte Grausamkeit. Die Hamas ist ein Tier, deshalb ist der Vorschlag, Krankheiten zu verbreiten, legitim». Er sieht darin eines der gefährlichsten Phänomene der Gegenwart: «die Standardisierung, Legalisierung und Normalisierung des Bösen».
Das neue Böse, so Levy, sei entstanden «aus der Verachtung und pathologischen Gleichgültigkeit in Israel gegenüber dem, was jetzt in Gaza passiert». Ausländische Journalisten würden ihren Augen nicht trauen: Das Leid von Gaza existiert in Israel nicht. Für die israelischen Medien gelte: «Israel hat nicht Tausende von Kindern getötet und nicht eine Million Menschen aus ihren Häusern vertrieben». Die Opfer von Gaza seien «völlig aus dem Blickfeld verschwunden, nicht nur aus der öffentlichen Debatte, sondern sogar aus den täglichen Nachrichten». Levy zeigt sich empört darüber, dass im israelischen Fernsehen, dem einzigen in der Welt, «wir keine Kinder getötet haben» und dass «laut israelischen Medien […] die israelische Armee in diesem Krieg nicht einmal ein kleines Kriegsverbrechen begangen hat».
Eine Gesellschaft, die so gleichgültig gegenüber der Realität und dem Leiden des Feindes sei, züchte, so Levy, «moralische Mutationen» wie Eiland heran. Dieser selbst glaube, dass sein Vorschlag in keiner Weise verwerflich sei und dass er nur einen vernünftigen Vorschlag […] gemacht habe, der den Interessen Israels diene. Denn für ihn und seinesgleichen gebe es ohnehin «keine andere Erwägung […] als das Interesse Israels». Nach dieser Logik sei dann «das Völkerrecht […] für die Schwachen, die Moral für die Philosophen, der Humanismus für die Weichherzigen». Mit einer solchen Geisteshaltung sei dann «wirklich […] nichts falsch an einer Epidemie in Gaza» – es sei denn, sie könne auf Israel übergreifen. Die israelische Gesellschaft sei aber bereits von solchen Denkmustern infiziert.