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Rentenmodelle in Diskussion
Neugeborene als Rentner?
Die Altersvorsorge wird in der Schweiz immer wieder kontrovers diskutiert. Angesichts der demografischen Entwicklung und wirtschaftlicher Unsicherheiten sucht man nach nachhaltigen und gerechten Wegen zur Absicherung im Alter. Dabei rücken auch unkonventionelle Rentenmodelle ins Blickfeld, die das etablierte Dreisäulensystem ergänzen könnten.
von Vera Bueller | 1. Januar 2024
Angenommen, jedes Neugeborene bekäme gleich bei der Geburt ein finanzielles Geschenk vom Staat. Dieses Startkapital würde bis zur Pensionierung gewinnbringend angelegt und diente dann als Zusatzrente. Was wie Zukunftsmusik klingt, hat der Frankfurter Professor Raimond Maurer bereits für Deutschland durchgerechnet: Bei einer Anlage von 5000 Euro ab Geburt könnte so im besten Fall eine Monatsrente von 3150 Euro resultieren. In der reicheren Schweiz wäre ein Geburtsgeschenk von beispielsweise 10’000 Franken denkbar.
In den USA und Grossbritannien wurde die Idee einer «Geburtsurkunde-Anleihe» schon umgesetzt. Dort floss das Geld allerdings in einen Fonds, der mit dem 18. Lebensjahr endete und speziell der Ausbildung diente. Raimond Maurer will die Anlage aber gezielt als Rentenmodell nutzen. Dabei betont der Professor der Frankfurter Goethe-Universität, dass eine solche Rente als Ergänzung zur bestehenden Altersvorsorge gedacht ist und nicht als Ersatz. So könnte sich auch der Basler Soziologe Ueli Mäder eher mit der Idee anfreunden. Grundsätzlich steht er solchen Anlagemodellen aber skeptisch gegenüber: «Denn sie funktionieren meist als Anlage für Besserverdienende.» Er plädiert für eine Stärkung der AHV, auch durch den Ausbau der Ergänzungsleistungen. Eine Reform müsse für alle gerecht sein und dürfe nicht das Ziel der Renditemaximierung verfolgen.
Eine Gerechtigkeitsfrage
Tatsächlich stellt sich bei der «Geburtsurkunde-Anleihe» die Gerechtigkeitsfrage: Was ist mit den heute Lebenden, die kein Geschenk bekommen haben? Eine mögliche Lösung könnte darin bestehen, diesen Personen beim Renteneintritt einmalig ebenfalls 10’000 Franken zur Rentenaufbesserung auszuzahlen. Doch allein die Finanzierung des Geburtsgeschenks wäre bereits eine Herausforderung: In der Schweiz beliefen sich die Kosten dafür auf rund 800 Millionen Franken pro Jahr, was etwa einem Prozent des Bundeshaushalts entspricht. Hinzu kämen noch die zusätzlichen Kosten für die Übergangsgeneration.
Doch die Früchte für den Einzelnen wären nicht zu verachten: Angenommen, das Geburtstagsgeschenk wäre vor über fünf Jahrzehnten in einen Schweizer Aktienfonds investiert worden, so hätte dieser nach Angaben der Luzerner Kantonalbank eine durchschnittliche jährliche Rendite von 7,8 Prozent erzielt. Aus den 10’000 Franken zum Geburtstag wäre so ein Kapital von heute 1’318’923 Franken entstanden. Bei einem Umwandlungssatz von 6 Prozent entspräche dies einer monatlichen Rente von 6’594 Franken. Und selbst bei einer Rendite von lediglich 5 Prozent wäre die lebenslange Rente immer noch so hoch wie eine minimale AHV-Rente – ohne dass man dafür Beiträge bezahlen musste.
Der Staat könnte profitieren
Auf der anderen Seite könnte auch der Staat langfristig von diesem Modell profitieren – durch geringere Ausgaben für Ergänzungsleistungen und höhere Steuereinnahmen aufgrund der nachgelagerten Besteuerung der Renten. Trotz dieser möglichen Vorteile stellt sich unweigerlich die Frage nach der Finanzierung eines solchen Systems. Woher soll das Geld kommen?
In Norwegen wird die staatliche Rente zu einem grossen Teil aus den Einnahmen der Ölindustrie gespeist. Der norwegische Staatsfonds ist einer der grössten der Welt und dient der langfristigen Sicherung des Rentensystems. Was in Norwegen die Öleinnahmen sind, könnten in der Schweiz allenfalls die Gewinne der Nationalbank sein. Aber diese Idee wirft ebenfalls Fragen auf, denn Nationalbankgewinne sind keine verlässlichen und dauerhaften Einnahmequellen.
Verwendung von Nationalbank-Gewinnen
Und doch könnte die Idee der Verwendung von Nationalbankgewinnen für ein weiteres Rentenmodell in Betracht gezogen werden: für die «universelle Basisrente», die unabhängig von der Erwerbsbiografie einer Person als Ergänzung zum Bestehenden gewährt würde. Denkbar ist überdies ein «Rentenkonto für nicht erwerbstätige Pflegende», die Kinder, ältere Menschen, Behinderte oder Kranke betreuen und deshalb keine ausreichenden Rentenansprüche erwerben können. «In der Schweiz werden jährlich neun Milliarden Stunden unbezahlt geleistet. Da ist eine soziale Absicherung dringlich», sagt der Soziologe Ueli Mäder.
Gar kein Gehör findet bei ihm die Idee eines «Bürgerdividendenfonds», wenn der Staat aus eigenen Beteiligungen einen Fonds aufbauen und die Dividenden an die Bürger ausschütten würde. Mäder warnt: «Der Staat soll nicht spekulieren, sondern sozial agieren.» Zudem vernachlässige die Diskussion um die Altersvorsorge die hohe Wertschöpfung der Renten und den demografischen Ausgleich, der sich in zehn, fünfzehn Jahren mit den geburtenschwachen Jahrgängen ohnehin ergäbe.
Teilrenten-, Anspar- oder Progressionsmodelle
Auch Rentenexperte Maurer steht der Dividenden-Idee wegen der Zinsabhängigkeit skeptisch gegenüber. Interessant findet er hingegen Teilrenten-, Anspar- oder Progressionsmodelle. In den USA gibt es bereits die Möglichkeit, den Rentenbezug so zu verschieben, dass man bis zu 32 Prozent mehr Geld bekommt. Raimond Maurer erklärt das Prinzip an einem Beispiel: «Eine Person geht erst mit 70 statt mit 62 Jahren in Rente. So bekommt sie mit 70 monatlich 2660 Dollar – mit 62 Jahren wären es nur 1500 Dollar. Oder aber sie bezieht mit 70 die gesamte Summe der während der acht Jahren nicht ausbezahlten Rente, was inklusive Kapitalertrag und Mortalitätskomponente 177’000 Dollar wären. Ab 70 hätte die Person dann neben dieser Einmalzahlung die normale lebenslange Rente von 1500 Dollar.» Ihn fasziniere an diesen Optionsmodellen, «dass man über die Zeit eine Rente generieren kann und sich die Bevölkerung kollektiv mit der Kapitalisierung auseinandersetzen muss – das trägt zur finanziellen Bildung bei», meint der Professor. Vor allem weniger begüterte Personen zeigten sich in den USA von der Kapitalauszahlung begeistert, da sie so auf einen Schlag eine grössere Summe erhielten.
In diese Richtung geht auch die Zürcher Pensionskasse BVK, die eine Kombination von Teilauszahlung und Rente anbietet: Dabei wird die gesamte Altersrente ab Pensionierung bis Alter 75 berechnet und ganz oder teilweise als Kapital ausbezahlt, wobei ein Reduzierungsfaktor berechnet wird. Angenommen die Rente beträgt 1000 Franken pro Monat, wären es für 10 Jahre rund 107’000 Franken, die zur Verfügung stehen. Mit einem zweiten Modell («Dyna») gewährt die BVK die Möglichkeit, bei Rentenbeginn eine höhere Rente zu beziehen, die dann bis zum 75. Lebensjahr kontinuierlich sinkt. Die BVK geht davon aus, dass die Menschen mit zunehmendem Alter generell weniger Geld benötigen.
Bedarfskosten steigen im Alter
Diese Annahme steht jedoch im Widerspruch zur Statistik, die zeigt, dass die Bedarfskosten im Alter sogar steigen. Entsprechend skeptisch beurteilt der Präsident des PK-Netzes, Jorge Serra, das Dyna-Modell: «Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die Wahlmöglichkeit nur als reale Option für die gut Verdienenden im Versichertenbestand der BVK – oder sie belastet die Staatskasse, da die Wahrscheinlichkeit eines EL-Bezugs mit steigendem Alter sowieso schon zunimmt.» Er plädiert für stabile Leistungen ohne Wahlmöglichkeiten in der 2. Säule, um die Führung der Kassen nicht unnötig zu erschweren.
In einem Punkt herrscht unter den Experten Einigkeit: Angesichts der fortschreitenden Pluralisierung der Gesellschaft braucht es flexible Angebote für alle Einkommensschichten. Dabei gilt es, die Balance zwischen Solidarität und Eigenverantwortung zu wahren. Ueli Mäder betont: «Die Rente muss in jedem Fall sozialverträglich und garantiert existenzsichernd sein. Schon heute gibt es viel zu viele Rentnerinnen und Rentner, die sich aus Geldmangel zurückziehen und kaum mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können.»
Der Artikel ist auch erschienen im «Beobachter»