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Hat Washington mit der Demontage Selenskyjs begonnen?
«Wir werden verlieren»
Wladimir Selenskyj hat es erneut auf die Titelseite des amerikanischen Magazins «Time» geschafft. Doch kaum so, wie er es sich wünschte: Anstatt des früheren Heldenbilds wird er nun aus der Distanz und von hinten gezeigt, fast ängstlich zurückblickend, als ob er einen Tritt erwartet. Die romantische Inszenierung hat einer nüchternen Darstellung Platz gemacht. Eine Demontage des «Time»-Journalisten Simon Shuster.
von Redaktion | 2. November 2023
Der Artikel von Simon Shuster im “Time”-Magazin zeichnet ein interessantes Bild der sich wandelnden Stimmung rund um den Ukraine-Krieg und die Person Selenskyjs. Shuster, ein in Moskau geborener Journalist, begleitet Selenskyj seit 2019. Er hat mehrere grosse Interviews mit dem ukrainischen Präsidenten geführt und ein Buch über ihn mit dem Titel «Showman» veröffentlicht.
Laut Shuster wirkt der ukrainische Präsident zunehmend isoliert und frustriert darüber, dass der Enthusiasmus und die Unterstützung des Westens nachlassen. Bei seinem Washington-Besuch im September musste Selenskyj hinter verschlossenen Türen mit US-Abgeordneten verhandeln, eine öffentliche Rede wie noch Ende letzten Jahres blieb ihm verwehrt.
Insbesondere bemängelt Selenskyj, dass niemand mehr an einen ukrainischen Sieg glaube, ausser ihm selbst. Er scheint besessen von der Idee eines Sieges, was sogar enge Berater beunruhigt. Selenskyj lehne jegliche Friedensverhandlungen kategorisch ab, so Shuster.
Mehrere Personen aus Selenskyjs Umfeld werden zitiert, die Zweifel äussern. “Wir haben keine Optionen mehr. Wir gewinnen nicht. Aber versuchen Sie ihm das zu sagen”, zitiert Shuster einen engen Berater. Ein anderer sagt offen: “Wir werden verlieren”, sollte der Westen die Hilfe einstellen.
Auch innerhalb des Militärs rumort es laut Shuster. Ukrainische Kommandanten sollen zunehmend Befehle verweigern, da diese als realitätsfern empfunden werden. Die Personallage sei katastrophal, Rekrutierung kaum mehr möglich. Shuster spricht von über 100’000 Gefallenen auf beiden Seiten gemäss US-Schätzungen.
“Selbst wenn die USA und ihre Satelliten der Ukraine all die Waffen geben, die sie versprechen, haben wir nicht die Leute, um die Waffen einzusetzen”, soll einer der engsten Vertrauten des ukrainischen Präsidenten zu Shuster gesagt haben.
Erschwerend kommt hinzu, dass der Westen verstärkt Druck bezüglich Korruptionsbekämpfung auf Selenskyj ausübt. Obwohl er den Verteidigungsminister feuerte, unternahm er laut Shuster sonst wenig. Es werden mehrere Skandale in Selenskyjs Regierung erwähnt. Der amerikanische Journalist wurde in Kiew offenbar sehr grosszügig mit Geheimnissen bedacht. Ein hochrangiger Berater Selenskijs forderte Shuster auf, das Tonaufnahmegerät auszuschalten, und verriet ihm: “Simon, du irrst dich (wenn du denkst, dass Selenskyj die Korruption bekämpft). Jeder stiehlt – als ob es kein Morgen gäbe.”
Dies ist eine schlechte Botschaft für Selenskyj. Ein Korruptionsvorwurf, zumal wenn er über das populärste Magazin der Vereinigten Staaten verbreitet wird, war in der Vergangenheit oft die Vorgehensweise Washingtons, um seine politischen Zöglinge auszumustern.
Den Schlusspunkt setzt die Befürchtung, dass mit dem Ausbruch des Kriegs zwischen Israel und Palästina die letzten Reste globaler Aufmerksamkeit von der Ukraine abgezogen werden könnten. Selenskyj versuche verzweifelt dagegen anzukämpfen, berichte Shuster, habe damit aber immer weniger Erfolg.
Insgesamt zeichnet der Artikel das Bild eines zunehmend isolierten, ja depressiven Selenskyj, der die Realität nicht mehr wahrhaben will.